Nachterstedt. Sie suchen. Nach Erklärungen. Nach Schuldigen. Nach drei vermissten Menschen würden sie gerne suchen. Doch das geht nicht. Es wäre zu gefährlich. Am Tag nach der Katastrophe herrscht Hilflosigkeit in Nachterstedt. Ein Dorf in Sachsen- Anhalt steht am Rande des Abgrunds.

Über 30 Stunden ist es nun schon her, dass die Erde sich aufgetan hat. Im Morgengrauen hat sie sich ohne Vorwarnung geöffnet und ein Doppelhaus über 100 Meter in die Tiefe gerissen – direkt an das schlammige Ufer des Concordia-Sees. Ein zweites steht nur noch zur Hälfte. „Wie abgeschnitten”, sagt Ursula Rothe, die Sprecherin des Salzlandkreises immer wieder. Gesehen hat das Unglück keiner. „So etwas passiert in Millisekunden”, weiß Gerhard Jost vom Landesamt für Geologie. Die Anwohner rund um die Unglücksstelle hören nur ein Krachen, ein Grummeln. So wie Karin Meyer. Dann hört sie Menschen auf der Straße schreien: „Kommt raus, die Häuser sind weg.”

Nicht nur die Häuser. Auch eine Straße endet plötzlich im Nichts. Und das Ausflugsschiff „Seelandperle” wird von der Flutwelle, die der Erdrutsch im See auslöst 15 Meter emporgehoben und auf die gegenüberliegende Uferpromenade geworfen. Polizei, Feuerwehr und Technisches Hilfswerk lösen Großalarm aus. Schon kurz darauf wimmelt es im Ort von Helfern und Rettungskräften. Sie haben dabei, was die moderne Technik zu bieten hat. Und sind dennoch zur Untätigkeit verbannt. Zu gefährlich wäre die Suche nach den Vermissten. Überall nur Schlamm und Morast und: „Es rutscht noch weiter”, sagt Polizeisprecher Wolfgang Boinski. Deshalb kommen weder Suchhunde noch Höhenretter zum Einsatz. Nur ein Polizeihubschrauber überfliegt die Unglücksstelle mit einer Wärmebildkamera an Bord. Er findet keine Spur von Leben.

Fassungslose Menschen

So ist zunächst unklar, wie viele Opfer es gibt. „Vier Vermisste” heißt es lange. Bis sich gestern Mittag der 22-jährige Manuel bei der Polizei meldet. Der Taubstumme ist zwar in dem abgestürzten Haus gemeldet, wohnt aber woanders. Sein Vater Thomas S. (50) bleibt unter den Schlammmassen verschwunden. Genau wie die Nachbarn Peter (51) und Ilka K. (48). Offiziell gelten sie auch gestern noch als vermisst.

Doch kaum einer der Retter gibt sich noch der Illusion hin, sie lebend bergen zu können.

Die Menschen im Ort sind fassungslos. Gerade einmal drei Tage vor der Katastrophe hat sich ihr Dorf mit mehreren Nachbargemeinden zur Stadt Seeland zusammengeschlossen. Auch um den Tourismus gemeinsam anzukurbeln. Ein „Harzer Seeland” in Sichtweite des Brockens sollte der Concordia-See werden. Schon seit 1994 wird das Tagebauloch deshalb für die touristische Nutzung geflutet. Doch jetzt fürchtet Bürgermeister Siegfried Hampe: „Unsere Träume vom florierenden Naherholungsgebiet können wir erst einmal beerdigen.”

Spekulationen sprießen

Genau weiß er das nicht. Weil niemand genau weiß, warum es überhaupt zur Katastrophe gekommen ist. „Es war der Regen”, versucht sich die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbaugesellschaft (LMBV), die für die Sicherung und die Flutung des Tagebausees zuständig ist, anfangs aus der Schusslinie zu nehmen. 20 Liter pro Quadratmeter sind in der Nacht zu Samstag gefallen. „Nicht außergewöhnlich” nennt Wetterexperte Jörg Kachelmann das.

Polizei und Kreisverwaltung vermuten inoffiziell einen Zusammenhang mit der Braunkohleförderung, die bis 1991 in unmittelbarer Nähe des Dorfes stattfand. „Möglicherweise gibt es alte Schächte, die nicht entdeckt oder kartiert sind“, räumt auch LMBV-Unternehmenssprecher Uwe Steinhuber mittlerweile ein.

Älteren Nachterstedtern erzählt er nichts Neues. Sie vermuten schon lange, dass ihr Dorf unter der Erde aussieht wie ein Schweizer Käse. Von Hohlraumverfüllungen in jüngster Zeit berichten sie oder von mangels Grundfestigkeit abgebrochenen Arbeiten. Und manch einer will nun schon lange geahnt haben, „dass so etwas mal passieren musste”. Experten geben sich derzeit zurückhaltend, sprechen von „Spekulationen”.