Istanbul. Der türkische Ministerpräsident sprach nach dem Besuch des Katastrophengebiets von einem „Jahrhundert-Desaster”. Die Meteorologen warnen vor weiteren schweren Regenfällen.
Keine Entwarnung für Istanbul: Während in den westlichen Stadtteilen der Bosporus-Metropole und entlang der Küste des Marmarameeres die Aufräumarbeiten nach der verheerenden Flut vom Mittwoch begannen, warnen die Meteorologen vor weiteren schweren Regenfällen. Sie sollen am Freitag und Samstag über der Nordwesttürkei niedergehen. Istanbuls Bürgermeister Kadir Topbas sagte, die erwarteten Niederschläge könnten sogar noch heftiger sein als die Regenfälle der vergangenen zwei Tage.
Am Donnerstag fanden Suchtrupps in der nordwesttürkischen Provinz Tekirdag ein weiteres Opfer der tödlichen Flut. Es handelt sich um einen Bauern, dessen Hof am Dienstag von der Flutwelle überspült wurde. Die Frau des Mannes und seine drei Töchter waren bereits zuvor tot geborgen worden. Damit hat die Katastrophe bisher mindestens 32 Tote gefordert. Acht Menschen wurden aber am Donnerstag noch vermisst, und Behördensprecher warnten, die Zahl der Opfer könnte letztlich sehr viel höher sein. Noch hat man also kein genaues Bild über die Folgen der Katastrophe.
Nachdem das Wasser im Istanbuler Westen abgelaufen ist, bietet sich dort ein Bild völliger Verwüstung. Viele Straßen sehen aus wie Gebirgsbäche: Die braune Flut hat sich metertief in die Straßen gegraben, hat Asphalt, Kanalisation und Versorgungsleitungen mitgerissen. Augenzeugen berichten, die Flutwelle sei „wie ein Tsunami” durch die Straßen gerast.
Plünderer machten sich über das „Strandgut” her
Im Stadtteil Ikitelli, der am schlimmsten betroffen ist, spülten die Wassermassen fast den gesamten Lagerbestand eines Hausgeräte- und Elektronik-Großhändlers weg. Waschmaschinen, Kühlschränke und Fernseher wurden Kilometer weit fortgeschwemmt und landeten irgendwo in den umliegenden Straßen. Plünderer machten sich über das „Strandgut” her. Die meisten Geräte dürften aber unbrauchbar sein. Auch viele Einzelhändler mussten hilflos mit ansehen, wie die Flut die Waren aus ihren Läden fortspülte. Die Straßen im Katastrophengebiet sind übersät mit zertrümmertem Mobiliar. Das Rechenzentrum des Mobilfunkbetreibers Vodafone wurde ebenfalls überschwemmt und fiel aus. Dadurch brach das Handy-Netz teilweise zusammen. Ali Erat, Vizechef des Versicherungskonzerns Axa Sigorta, schätzt, dass die Flut Sachschäden von umgerechnet 50 bis 60 Millionen Euro hinterlassen hat.
Mit Kränen und Bulldozern versuchten Räumtrupps am Donnerstag die Wracks zerstörter Pkw und Lastzüge entlang der Autobahn zum Atatürk-Flughafen zu bergen. Am schlimmsten sieht es auf dem Lkw-Depot Orhas Ihrachat aus. Hier machten viele Fernfahrer in der Nacht zum Mittwoch Pause und schliefen in ihren Fahrzeugen, als die Flutwelle am Morgen über den Parkplatz hereinbrach und selbst schwere Sattelzüge wie Spielzeugautos ineinander drückte. Mindestens 13 Fahrer kamen allein hier ums Leben. Es wird aber befürchtet, dass man während der Aufräumarbeiten weitere Opfer finden wird.
Ministerpräsident Tayyip Erdogan sprach nach einem Besuch des Katastrophengebiets von einem „Jahrhundert-Desaster”. Neben Ikitelli wurden auch die Stadtteile Gaziosmanpasa, Arnavutköy, Esenler, Eyüp und Sultangazi von schweren Überschwemmungen heimgesucht. Im Stadtteil Sisli musste ein achtstöckiges Wohnhaus evakuiert werden, nachdem sich Risse in den Wänden zeigten. Offenbar sind die Fundamente unterspült. Am Mittwochfrüh habe Istanbul „innerhalb einer einzigen Stunde 205 Kilo Regenwasser pro Quadratmeter abbekommen”, sagte Bürgermeister Topbas. „Das war der stärkste Regen, den die Stadt seit 80 Jahren erlebt hat.”