Essen. Wie gut sind deutsche Atomkraftwerke vor Terroranschlägen geschützt? Experten wissen, dass insbesondere die älteren Anlagen verwundbar sind. Und auch ohne Flugzeugabstürze, Sabotageakte oder Sprenstoffanschläge sprechen Kritiker vom "ganz normalen Wahnsinn" im Normalbetrieb.
Es werde „ein böses Erwachen” geben. In deutscher Sprache fordert der Taliban-Kämpfer Rache für das deutsche Engagement in Afghanistan. „Damit auch ihr etwas von dem Leid kostet”, droht er. Zugleich zeigt das Video Bilder vom Kölner Dom, vom Brandenburger Tor, vom Oktoberfest. Was, wenn eines Tages ein deutsches Atomkraftwerk auf solchen Islamisten-Videos auftaucht, fragen nicht nur Sicherheitsexperten. Wie gut sind die sensiblen Anlagen vor Terroranschlägen geschützt?
"Wie Tschernobyl - nur schlimmer"
Sicherheitskategorien bei AKWs
Die Atomanlagen lassen sich anhand ihrer Auslegung in Sicherheitskategorien einteilen. Gegen den Absturz eines Militärjets vom Typ Phantom ausgelegt sind die neueren AKW Emsland, Neckarwestheim 2, Isar 2, Brockdorf, Philippsburg 2, Grohnde sowie Krümmel und Grundremmingen B und C. Den Absturz eines leichteren Starfighters überstehen würden Biblis B, Unterweser und Neckarwestheim. Über keinen speziellen Schutz gegen Abstürze verfügen Biblis-A, Brunsbüttel, Isar 1 und Philippsburg 1.
Zu diesen Ergebnisse kam eine Studie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit im Anschluss an die Anschläge vom 11. September 2001. Die Studie wurde vom Bundesumweltministerium 2002 zusammengefasst.
„Man muss sich das Tschernobyl-Szenario vorstellen”, sagt Henrik Paulitz, Fachreferent für Atomenergiefragen des IPPNW (Ärzte für die Verhütung der Atomkriege). „Nur schlimmer, denn die Bevölkerungsdichte in Westeuropa ist höher.” Gegen einen gezielten Flugzeugabsturz seien ältere Anlagen nicht gesichert. Auch Sabotageakte oder Sprengstoffanschläge könnten eine Katastrophe auslösen, sagt Paulitz. Millionen Menschen müssten evakuiert werden.
„Wenn ein professionelles Team an zwei, drei Stellen Sprengungen vornimmt, kann die Anlage aus dem Ruder laufen.” Im Streit um den Widerruf der Betriebsgenehmigung für das Kernkraftwerk Biblis B habe die juristische Vertretung der Aufsichtsbehörde eingeräumt, „dass die Anlage selbstverständlich nicht dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Insofern bestehe zwischen den Parteien Einigkeit”, schreibt die beauftragte Berliner Rechtsanwaltsgesellschaft am 26. August 2009. Paulitz: „Kurz: die Anlage ist nicht sicher und wird dennoch betrieben.”
Wolfgang Liebert, Kernphysiker der TU Darmstadt bestätigt das Risiko. „Wer sich gut auskennt, kann ein Kernkraftwerk empfindlich treffen.” Mache Anlagen beziehen ihr Kühlmittel von außen, etwa über Flussläufe. „Das könnte ein Angriffspunkt sein”, glaubt Liebert. „Wer mit einer Panzerfaust die Sicherheitszentrale eines AKW angreift, hat einen wunden Punkt getroffen.”
Erkenntnisse bleiben geheim
Nur Phantasieszenarien? Vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington wurden mit Blick auf die Sicherheit von Atomanlagen weltweit nur Flugzeugabstürze diskutiert, die durch einen Unfall ausgelöst wurden. Doch bereits am 17. September 2001 wurde die deutsche Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) von der Bundesregierung beauftragt, auch gezielte Flugzeugabstürze zu untersuchen. Die Regierungen der OECD-Länder einigten sich darauf, die Ergebnise aus Sicherheitsgründen geheim zu halten. Das zeigt, wie ernst die Regierungen die Lage einschätzten.
Eine Studie des Öko-Instituts trug 2007 alle öffentlich verfügbaren Daten zusammen, um eine sachlich fundierte Risikoabwägung zu liefern. Die Untersucht basiert auf Berechnungen des Bundesumweltministeriums und der Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Ein zentrales Ergebnis: Die älteren Anlagen, wozu auch Biblis-A gehört, sind weder gegen einen unfallbedingten Absturz, etwa eines leichteren Militärjets, noch gegen einen gezielten Flugzeugabsturz mit einer schweren Passagiermaschine gesichert.
In der Atomindustrie fehlen Fachkräfte
Zwar sei die Terrorbedrohung nicht auszuschließen, sagt Prof. Wolfgang Kromp, Leiter des Instituts für Risikoforschung der Universität Wien. Doch sei die Wahrscheinlichkeit niedrig. Mehr Sorgen bereite ihm der „ganz normale Wahnsinn”, sagt Kromp. Die Betriebsrisiken würden durch folgende Faktoren erhöht: Die Atomindustrie leide weltweit unter einem eklatanten Mangel an Fachkräften.
Die 440 Kraftwerke weltweit hätten die Hälfte ihrer Laufzeit überschritten. Laufzeiten älterer Kraftwerke würden verlängert, was jetzt auch in Deutschland diskutiert werde, die Energieausbeute gesteigert. All dies diene nicht der Sicherheit. Sein Rat: „Man sollte sehen, dass man eine so verletzbare Technik schnell los wird.”
Völlige Sicherheit gibt es nicht
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Prof. Hans-Jürgen Lange vom Lehrstuhl für Sicherheitsforschung der Uni Witten/Herdecke warnt indes vor Alarmismus. Atomkraftwerke seien durch Bauweise und Wachpersonal vor Terrorangriffen gut geschützt. Zudem müsse man die Verhältnismäßigkeit im Blick behalten: „Hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben.”
Auch Chemiewerke, Staudämme, Gaskraftwerke, Ölraffinerien seien mögliche Anschlagsziele. Völlige Sicherheit könne sich eine Gesellschaft nicht leisten – und sie sei womöglich auch nicht erstrebenswert. Lange: „Wir würden in einem totalen Sicherheitsstaat leben müssen.”