Washington. Der Fall einer vor 18 Jahren als elfjähriges Mädchen entführten Kalifornierin erschüttert die USA: Die heute 29-jährige Jaycee Lee Dugard wurde von einem polizeibekannten Sex-Täter jahrelang in einem Hinterhof-Verschlag gefangen gehalten und missbraucht.

Natürlich hatten die Eltern im Viertel ihren Kindern eingeimpft, Phillip Garrido (58) zu meiden. Dass er 1971 ein Kind vergewaltigt hatte, lange Jahre im Gefängnis saß und nach seiner Entlassung unter lebenslanger Beobachtung stand, war den meisten in der Nachbarschaft bekannt. Aber dass Garrido direkt unter ihrer Nase 18 Jahre lang ein noch weit monströseres Verbrechen beging und sich eine Gefangene hielt, fiel offenkundig niemandem auf.

Gesichtslose Vorstadt

„Wir haben nie jemanden schreien gehört. Niemals haben wir jemanden um Hilfe rufen hören”, sagte Garridos Nachbarin Heather McQuaid-Glace. Dass Garrido ein seltsamer Kauz war und sich in den letzten Jahren zunehmend in einen religiösen Wahn gesteigert hatte – das war allen Nachbarn in dieser gesichtslosen Vorstadt im Großraum San Francisco durchaus unangenehm aufgefallen. „Aber Jaycee habe ich nie gesehen”, meinte Diane Doty, deren Grundstück direkt an Garridos Hinterhof-Garten grenzt.

Dass auf dem Grundstück mit dem Haus im Rancher-Stil auch noch zwei junge Mädchen wohnten, die nie mit den Nachbarskindern spielten, nicht in die Schule gingen und überaus scheu wirkten, fanden zwar viele seltsam. Aber letztlich, so meinten die meisten, ging es sie nichts an.

Erinnerungen an den Fall Kampusch

Der Anruf einer Nachbarin bei der Polizei ging überdies ins Leere. Stets gab Garrido auf Nachfragen vor, seine Töchter daheim zu unterrichten. Nichts Illegales ist das in den USA. Inzwischen ist das FBI dabei, den verwilderten Garten umzugraben, Spuren eines Verbrechens zu sichern, dass auf schreckliche Weise an das Martyrium der beiden österreichischen Mädchen Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl erinnert.

Im Juni 1991 war Jaycee Dugard auf dem Weg zur Bushaltestelle, als ein Paar das hübsche blonde Kind plötzlich in seine Limousine zerrte. Die Elfjährige wehrte sich, schlug und trat um sich. Eine Chance hatte sie nicht. Ihr Stiefvater Carl sah die Szene aus naher Entfernung, schwang sich blitzschnell aufs Fahrrad, um dem Wagen nachzusetzen. Doch der war schneller. Die Polizei war wenige Minuten später vor Ort. Aber das Auto, ein grauer Ford des Typs „Monarch”, blieb verschwunden und sollte sich erst 18 Jahre später, als Blickschutz, in Garridos Garten wiederfinden.

Für Jaycee, aber auch ihre Familie, begann ein Leidensweg, der ihre Leben zerstören sollte. Die Ehe von Mutter und Stiefvater zerbrach unter dem Druck. Lange galt Stiefvater Carl als verdächtig, hinter der Entführung zu stecken. „Es war die Hölle”, sagte Carl Probyn (60), mit Tränen der Erleichterung kämpfend, im US-Fernsehen.

Blickdicht verborgen

Im hinteren Teil des weitläufigen Gartens an der Walnut Avenue von Antioch, gute 300 Kilometer von Jaycees Elternhaus entfernt, blickdicht verborgen hinter Planen, Zäunen und Gerümpel vegetierte das Mädchen die nächsten Jahre. Zwei kleine Schuppen hatte Garrido ausgebaut, einer war sogar schalldicht und nur von außen zu öffnen. Zerrissene Zelte, abgenutzte Gartenmöbel, improvisiert verlegte Stromleitungen, ein einfacher Kocher, eine primitive Dusche – die Polizei sprach von Camping-ähnlichen Verhältnissen, unter denen Jaycee und später auch ihre Kinder leben mussten. Zwei Mädchen brachte sie in der Gefangenschaft zur Welt. Das erste Baby bekam sie mit 14. Ihr jüngstes Kind ist heute so alt wie sie selbst zum Zeitpunkt ihrer Entführung.

Gesundheitlich geht es ihnen wohl gut, obwohl sie in ihrer „völligen Isolation”, so die Polizei, nie einen Arzt sahen. Aber die Jahre in der Gefangenschaft „fordern ihren Tribut”, sagte Sheriff Fred Kollar. „Mom, ich muss dir etwas sagen. Ich habe Babys”, sagte Jaycee beim ersten Wiedersehen mit ihrer Mutter, die sich unmittelbar nach dem erlösenden Anruf der Polizei in ein Flugzeug setzte, um ihre Tochter überglücklich an einem sicheren Ort in die Arme zu schließen.

„Sie sieht wohl jung und gesund aus”, sagte ihr Stiefvater nach einem Telefonat mit seiner Exfrau, fühle sich aber schuldig, „sich mit diesem Typen eingelassen zu haben”. Als hätte sie die Wahl gehabt.

Gentest soll Gewissheit geben

Die furchtbare Wahrheit, einem Kinderschänder in die Hände gefallen zu sein, ist ein Szenario, das die schlimmsten Albträume von Carl und Jaycees Mutter Terri Wirklichkeit werden ließ. „Wir hatten gehofft, dass vielleicht ein Paar, das keine eigenen Kinder haben konnte, Jaycee entführt hatte, sie zur Schule gehen ließ und normal aufzog.”

Dass die heute 29-Jährige wirklich das Kind war, das ihre Mutter zuletzt als Elfjährige gesehen hatte, hatte die Polizei anhand von Fragen überprüft, deren Antwort nur Jaycee kennen konnte. Ein Gentest soll nun letzte Gewissheit geben.

Garrido, der eine Druckerei betrieb und sich zum Prediger berufen fühlte, der direkt mit Gott sprechen konnte, verriet sich wohl selbst. Mit seinen beiden Töchtern verteilte er ohne Genehmigung religiöse Traktate auf dem Campus der Berkeley-Universität. Bei der Überprüfung seiner Personalien fand eine Polizistin Garridos Strafakte im Register und informierte seinen Bewährungshelfer. Bei der Vorladung erschien er mit den Kindern, seiner 55-jährigen Ehefrau Nancy und Jaycee, die er als „Alissa” vorstellte. Als der Bewährungshelfer, der Garridos Grundstück in der Vergangenheit mehrfach inspizierte hatte, ohne dass ihm der verborgene Teil des Gartens auffiel, nachhakte, offenbarte Jaycee ihre Identität. Seither sitzen ihre Peiniger in Haft.