Fukushima. .
In Fukushima herrscht seit gut einem Monat der Ausnahmezustand. Augenzeugen berichten von Bildern einer Geisterstadt. Ein Rückblick auf einen Monat voller Chaos, Rückschläge, Desinformation.
Eine herrenlose Bulldogge verschlingt gierig ein ihr zugeworfenes Stück Fleisch. Rinderherden laufen auf den Straßen. In verwaisten Gärten wuchern Kohl- und Lauchpflanzen. Und kein Mensch, nur vereinzelt mit Schutzanzügen in LKW. Es sind Bilder einer Geisterlandschaft, die seit einigen Tagen im Internet zu sehen sind. Ein japanisches Team hatte sich mit dem Auto in die Evakuierungszone gewagt, während im Hintergrund mehrere Geigerzähler nervenzehrend anschlagen.
Man sieht von Erdbeben und Tsunami zerstörte Straßen, Häuser, Landschaften - und im merkwürdigen Kontrast fast friedlich in der Ferne: die havarierte Atomanlage, die seit nun einem Monat die Welt in Atem hält. Fukushima ist seit dem 11. März zum Symbol geworden für einen Albtraum, der nicht enden will.
Zunächst geht alles sehr schnell. Innerhalb von Minuten nach dem Beben fahren alle vier Atomkraftwerke im Nordosten Japans herunter. Doch dann kommt der Tsunami und zerstört die Stromversorgung einiger direkt an der Küste liegenden Anlagen. Ein Turbinenhaus im AKW Onagawa fängt Feuer.
Bald wird klar, welche Anlage besonders dramatisch getroffen ist: Fukushima-Daiichi, rund 250 Kilometer nördlich von Tokio. Dort stehen sechs Reaktoren. Auch in diesem Meiler fällt der Strom aus und noch am gleichen Tag auch das Notkühlsystem im ersten Reaktor. Damit beginnt der Wettlauf gegen die Zeit. Denn in einem ungekühlten Reaktor droht die Kernschmelze. Noch in der Nacht ruft die Regierung den atomaren Notstand aus.
Zustand des AKW kommt scheibchenweise ans Licht
Mit Evakuierungen beginnen die Behörden nur langsam und erst auf Drängen von Experten. Zunächst zwei, dann drei, dann zehn, dann 20 Kilometer um den Unglücksmeiler herum werden die Menschen ausquartiert. Am Tag nach dem Beben wird die ganze Welt - per Fernseher - zum Zeugen einer Explosion im Reaktor 1 und sieht wie das Dach wegfliegt. Solche Bilder gab es in der Atomgeschichte noch nie.
Die japanische Atomaufsicht gibt nun zu, dass es „möglicherweise“ zur Kernschmelze in Fukushima gekommen ist. Die Betreibergesellschaft Tokyo Electric Power Company (Tepco) schweigt dazu. In den folgenden Tagen und Wochen wird sie nur sehr zögerlich und häufig widersprüchlich über die Geschehnisse in Fukushima berichten.
Die Dimension der Katastrophe in Fukushima kommt scheibchenweise ans Licht. Dass etwa im Reaktorblock 3 hochgiftige plutoniumhaltige Mischoxid-Brennelemente enthalten sind, wird erst klar, als auch hier die Kühlung ausfällt. Am Tag drei nach dem Beben explodiert dieses Reaktorgebäude. Dabei wird auch die Hülle des daneben liegenden Reaktors 4 beschädigt. Da wiederum kommt ans Licht, dass in Reaktor 4 hoch radioaktive Brennelemente im Abklingbecken lagern. Das jedoch liegt völlig ungeschützt im oberen Bereich des Gebäudes. Und damit - nach der Explosion nebenan - fast unter freiem Himmel, nur von Wasser bedeckt.
Mittlerweile liegen in den Reaktordruckbehältern die Brennstäbe zu einem großen Teil frei und sind damit teils ungekühlt. Der unermüdlich vor die Presse tretende Regierungssprecher Yukio Edano sagt am 14. März, eine Kernschmelze in allen drei Reaktoren sei „höchst wahrscheinlich“. Am Tag danach steigt die Strahlenbelastung so stark an, dass Tepco rund 750 Mitarbeiter abzieht. In der Presse ist nun von den verbliebenen „50 Helden gegen den Super-GAU“ zu lesen. Tatsächlich arbeiten weiterhin einige Hundert Menschen im Schichtbetrieb auf dem Gelände. Sie werden damit nicht nur einem extremen Strahlenrisiko ausgesetzt, sondern müssen auch noch unter erbärmlichen Bedingungen ausharren, wie nach etwa drei Wochen bekannt wird: Sie sind angeblich mangelhaft gegen die Strahlung ausgerüstet, bekommen schlechte Verpflegung und schlafen zum Teil gegen Wände gelehnt.
Hohe Strahlenbelastung im Wasser und Explosionsgefahr
Die Explosionsgefahr in den Reaktoren ist nach wie vor hoch. Deshalb wird mehrfach Druck aus den Behältern gelassen. Das wiederum erhöht die Strahlenbelastung in der Umgebung. Außerdem werden mittlerweile die Reaktoren mit Meerwasser geflutet und gekühlt, da die normale Wasserzufuhr zerstört ist. Doch beim Fluten wird das Wasser stark radioaktiv belastet. Schon seit Tag vier der Katastrophe war klar: Große Mengen strahlenden Wassers werden ihren Weg ins Meer finden. Dennoch ist die Alternative zu dem Zeitpunkt nur, die Kühlung zu unterlassen. Und das ist wegen der Explosionsgefahr keine Option. Auch aus der Luft wird ab dem 17. März Wasser per Hubschrauber abgeworfen. Damit sollen vor allem die Abklingbecken gefüllt werden. Mittlerweile ist Becken 4 nämlich angeblich völlig trocken, die strahlenden Brennstäbe liegen komplett frei, vermutlich brennen sie kurzzeitig. Die Strahlenbelastung in der Umgebung steigt stark. Es werden radioaktiv belastete Lebensmittel in der Region festgestellt. Tageweise wird vor dem Konsum des Tokioter Trinkwassers gewarnt.
Am 18. März gelingt der Anschluss einer Notstromleitung auf dem Gelände. Experten zweifeln jedoch, dass die vom Erdbeben, Tsunami, Explosionen und Wassermassen beschädigten Kühlsysteme damit wieder zum Laufen gebracht werden können. Immerhin geht in einigen Gebäuden das Licht wieder an. Doch das Arbeiten an den Kühlsystemen wird dadurch erschwert, dass verstrahltes Wasser zum Teil meterhoch in den Gebäuden steht. Es muss abgepumpt und entsorgt werden - viele Tausend Tonnen angeblich nicht so stark strahlendes Wasser werden direkt ins Meer geleitet.
Es wird immer deutlicher, dass die Situation noch wochen-, monate- und vielleicht jahrelang nur notdürftig unter Kontrolle gebracht werden kann. Denn im Laufe der folgenden Wochen steigt immer wieder der Druck in den Reaktorbehältern, erneute Explosionen drohen, die dann vielleicht nicht nur die Gebäudehüllen betreffen. Auch ist nach wie vor die Gefahr des Durchschmelzens des Kernmaterials durch den Sicherheitsbehälter nicht gebannt - und damit der Freisetzung großer Mengen von Radioaktivität. Was wäre, wenn deshalb die Arbeiter abgezogen werden müssten? Wenn die Anlage sich selbst überlassen würde?
Als am 7. April ein starkes Nachbeben die Stromversorgung in einigen AKWs erneut beschädigt, bleibt die Lage in Fukushima unverändert, verkündet Regierungssprecher Edano umgehend. Dennoch sagt auch er, es gebe hier noch längst „keine Entwarnung“. (dapd)