Norfolk. Die „Upper Class“ im Königreich bleibt gewöhnlich unter sich: Hinter hohen Hecken pflegt sie einen Lebensstil, der diskret und versnobt ist. Aber Veronica Joly de Lotbinière führt Hausgäste in Landschlösser und in aristokratische Sitten ein.
Beinahe scheitert die Quintessenz britischer Erfahrung schon morgens vor dem Kleiderschrank. Einen „typischen Tag auf dem Land“ hat Veronica versprochen, doch was soll ein durchschnittlicher Büromensch aus der Stadt tragen zu einer Landpartie mit Gutbetuchten, Baronen und Herzoginnen? Englische Freunde kennen immerhin die groben Klassengrenzen, aber eben nicht die Welt dahinter: „Nur die Mittelschicht sorgt sich um Äußerlichkeiten – besser also, Du fragst nicht nach dem Dress Code.“ Als der Zug in Downham Market in Norfolk hält, wird klar, dass das legere Jackett der perfekte Fehlgriff war: Es ist gefühlte zehn Grad kälter als in London, und Veronica hat den ersten Kleidungstipp parat: „Warme Pullis einpacken.“ Natürlich nicht irgendwelche – Kaschmir darf es schon sein.
Veronica Joly de Lotbinière ist Dreh- und Angelpunkt von „More Than Good Manners“ (auf Deutsch: Mehr als nur gute Manieren), einer Geschäftsidee, bei der ihre zahlreichen Upper-Class-Freunde ab sofort Privatresidenzen, Esszimmer-Tafeln und Pferde mit Neugierigen teilen. Für Touristen ist es die erste und einzige Möglichkeit, die britische Oberschicht auf Jagdbälle zu begleiten, mit ihnen zu dinieren, Adler steigen zu lassen und Lachse zu fangen. Sie lernen, im Damensattel zu reiten, den richtigen Hut für Ascot zu wählen oder ein Rebhuhn zu schießen.
Prestige bringt kein Geld ein
Erste Station ist Oxbough Hall, ein Tudor-Herrensitz aus dem 15. Jahrhundert. Wer Veronicas Gast ist, steigt nonchalant über die rote Kordel, die Museum strikt von Privatgemächern trennt. Im Salon wartet Henry Bedingfeld dann schon mit einer Tasse Tee. Zwischen historischen Öl-Porträts, schweren Teppichen und dem Steingutgeschirr schaut Henry auf den Wassergraben vor den riesigen Fenstern. „Ich glaube, auch für uns könnte es interessant sein, Gäste zu haben“, sagt er mit ausgesuchter Höflichkeit. Im Auftrag der Königin entwirft der Herold Wappen für Adelsfamilien. Das Prestige seines Berufs zahlt jedoch kaum die Rechnungen für das Anwesen. Das Wohnzimmer ist kaum geheizt, die Tapete wellt sich in manchen Ecken von der Decke. Über Geld spricht Henry Bedingfeld natürlich nicht, hofft aber, seinen Landsitz durch die gelegentlichen Dinnerpartys bekannter macht.
Einen Vorgeschmack auf den zu erwartenden „Small Talk“ an der langen Tafel gibt Henry auch schon: Kurz tariert er mit Veronica den sozialen Rang ihrer beiden Familien aus. Sie hat einen Stammbaum, der bis zum König von Frankreich im Jahr 987 zurückgeht, er weit über 900 Vorfahren. Sie nicken sich anerkennend zu: Leistung und Reichtum, all das gilt der Upper Class wenig – Tradition, Grundbesitz und Gummistiefel schon mehr.
Eine Welt fernab von Börsenkursen, Derivaten und Cashflows
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Ein Paar dieser „Wellies“ fischt Veronica für den nächsten Termin von der Rückbank ihres Wagens. Es geht zu einem „Hunt Meet“, ein Treffen, bei dem Jäger, Pferde und Hunde mit einem Gläschen Portwein für den Tag verabschiedet werden. Auf dem Lößboden von Norfolk stehen die Liebhaber dieses aristokratischen Hobbys und bewundern gegenseitig ihre Tiere. Es ist eine Welt fernab von Börsenkursen, Derivaten und Cashflows, auch wenn selbst hier die Wirtschaftskrise bisweilen zwackt.
Ihr nobelstes Quartier, das Hausgästen demnächst offen steht, ist Holkham, eine riesige Residenz an der Küste Norfolks, die es leicht mit dem Buckingham Palast aufnehmen könnte. Hier wird gerade das „Papageienzimmer“ für Fremde hergerichtet, ein mittelalterliches Schlafgemach in satten Farben und mit angeschlossenem Bad, in das eine Londoner Durchschnittswohnung bequem passen könnte.
Weniger exklusive Arrangements haben immer noch ausreichend Charme: Die Oberschicht umgibt sich überall mit einem Flair aus Strauchrosen und Kräutergärten; Blumenampeln und Goldfischteiche sind tabu. Offen für Gäste ist so auch ein recht durchschnittlicher Landsitz von „nur“ ein paar Tausend Quadratmetern, den Veronicas Freunde auf einem alten Grundstück von Oliver Cromwell errichtet haben. Auch ihr eigenes Heim, ein umgebautes Pfarrheim, stellt sie Gästen zur Verfügung. Wer seinen Urlaub auf der stilistisch sicheren Seite verbringen möchte, kann und sollte bei Veronica Joly de Lotbinière übrigens einen Etikette-Kurs belegen – und sich danach allein auf dem gesellschaftlichen Parkett von Ascot, Wimbledon oder der Chelsea Flower Show tummeln.