Essen. Sehr viele beeindruckende Briefe und spannende Mails erreichten die Redaktion nach unserem Aufruf an Leser und Leserinnen, uns ihre „Wende-Erlebnisse” zu schildern. Hier einige Auszüge:
„Natürlich war die Maueröffnung für mich ein bewegendes Ereignis. Damals war ich 21 und habe bis zu diesem Tage nicht damit gerechnet, dass es wirklich geschieht. Da ich Verwandte in Thüringen habe, bin ich eine Woche später dort hingefahren. Man durfte zu dieser Zeit nicht einfach mit dem Auto einreisen. So ließ ich mein Fahrzeug an einem provisorisch eingerichteten Grenzübergang stehen und machte mich auf den Weg.
Die Grenzbeamten der DDR waren plötzlich wie ausgewechselt und sehr freundlich. Direkt hinter der Grenze kam ich in eine völlig andere Welt. Der Braunkohlegeruch hing wie ein Schleier in der Luft. Es gab keine Straßenbeleuchtung und so wusste ich nach zehn Minuten Fußmarsch nicht mehr, wo ich mich befand. Die Rettung erfolgte in Form einer Wartburgfahrerin, die anhielt und mich bis vor die Tür meines Großvaters brachte. Niemals werde ich die Freude und Euphorie dieser Zeit vergessen. Am nächsten Tag sind wir alle in die Kirche gegangen und haben uns für dieses Wunder bedankt.”
Ralph Gödeke, Bochum
„An dem Tag war ich in Ostberlin. Ich saß im Café an der Friedrichstraße, um das letzte DDR-Geld auszugeben: Plötzlich war unter uns die Straße voll Menschen. Mein Begleiter sagte, lass uns gehen, da braut sich was zusammen. Auf der Straße mussten wir uns trennen, weil ich zum Checkpoint Charly musste. Da kam ich nicht hin. Ich war einfach in einem Menschenstau eingeklemmt, der mich mit sich weiter schob. Irgendwann erreichte ich mein Hotel. Total zerzaust, mein Mantel hatte keinen Knopf mehr, ein Ärmel war ausgerissen. Im Hotel saßen die Leute vor dem Fernseher und riefen mir zu, haben sie es schon gehört, die Mauer ist auf. Nein ich hatte es nicht gehört, ich war mitten drin, aber ich wusste es nicht.”
Eva Frosch, Essen
„Mein Mann fuhr etliche Jahre beruflich zur Messe nach Leipzig und übernachtete dort immer privat bei einer Familie. Dadurch ergab sich ein persönlicher Kontakt. Als sich dann tatsächlich am 9. November die Grenzen öffneten, luden (wir) unsere Freunde ein, den Weg in den Westen zu wagen. Am 11. November stand dann tatsächlich der Lada mit Thomas, Elke und ihrer Tochter Melanie vor unserem Haus. Seit dieser Zeit begehen wir den 11. November immer mit einem gemütlichen Gänseessen.
Ursula Schenk, Duisburg
„Am Tag der Öffnung der Mauer saßen meine Frau und ich beim Abendessen. Ich sagte: Komm wir fahren nach Berlin! Wir fuhren am 30. Dezember 1989. Am Silvesterabend, um kurz vor 24 Uhr, standen wir dann unter dem Brandenburger Tor, als oben die letzte DDR-Fahne gestürmt, zerrissen und heruntergeworfen wurde. Ein Ehepaar aus der DDR fing ein Stück auf und gab uns die Hälfte. Wir bedankten uns sehr und tranken einen Pappbecher Champagner auf das neue Jahr.”
Heinz Jürgen und Marlene Siebener, Mülheim
Der nächste Leser erfuhr vom Fall der Mauer auf einer Dienstreise nach Bolivien, die er in Paris unterbrechen musste, weil ein Flug storniert worden war: „In der ganzen Aufregung habe ich nur mal kurz den Fernseher eingeschaltet und natürlich Berichte aus Berlin gesehen, aber kaum etwas verstanden. Auf keinen Fall wurde mir klar, dass die Mauer fiel. Am Folgetag kaufte ich mir eine französische Zeitung, die ich heute noch besitze. Die Schlagzeile lautete: „Le mur tombé“ (Die Mauer ist gefallen). In diesem Moment kannte ich den Sinn nicht und habe mich wegen meines Reisefiebers auch nicht um eine Übersetzung bemüht. In Bolivien, wo ich Patenkinder der Kindernothilfe besuchte und das Land bereiste, waren Radio, Fernseher und Zeitungen erstmal für mich tabu. So kam es, dass ich nach etwa zwei Wochen zufällig von einem deutschen Touristen die Situation geschildert bekam.”
Martin Schulz, Moers
„Das Land NRW gastierte 1989 mit einer Reihe von Kunstausstellungen in Leipzig. Eine davon hatte ich als damaliger Staatssekretär im Kultusministerium NRW in Leipzig zu eröffnen: die Glasausstellung. Als Staatsgast der DDR war ich gut abgeschirmt durch zwei „Betreuer” aus dem Ostberliner Kulturministerium. In meinem Hotelzimmer gab es keinen Fernsehapparat, aber in der Empfangshalle, in der plötzlich eine große Unruhe entstand und alle sich vor dem Gerät drängelten.
Von welcher Tragweite das alles war, bekam ich damals nicht mit. Kurz vor Mitternacht klopften die Betreuer bei mir an. Mit Tränen in den Augen fragten sie mich, ob ich ohne ihre Begleitung das weitere Programm der Ausstellungen bestreiten könne und ob ich gestatte (!), dass sie unverzüglich nach Berlin reisten, sie wüssten nämlich nicht, ob sie überhaupt noch im Amt seien.
Auf der Rückfahrt hörte ich im Autoradio, dass die alte, bislang gesperrte B 7 über Creuzburg/Ifta Richtung Kassel gerade freigegeben worden sei, und ich wollte gerne diesen Weg mal ausprobieren. Mit einem Schneeräumer war die Straße, die 40 Jahr lang unbenutzt war, von einer dicken Erdschicht notdürftig freigeräumt worden, und die Grenzanlage, die aus mehreren, hintereinander gelegenen Drahtverhauen bestand, war aufgeschnitten worden. Hinter dem Drahtverhau fertigten NVA-Soldaten und Bundesgrenzschutz – alle unbewaffnet – die Reisenden ab. Es wurden noch ordnungsgemäß die Reisepapiere kontrolliert. Das friedliche Miteinander der beiden Grenztruppen war für mich der überwältigende Eindruck, dass ich gerade Zeuge eines Jahrhundertereignisses geworden war.”
Dr. Friedrich Besch, Bochum