Dresden/Leipzig. Es bleibt ein kleines Wunder, dass der Mauerfall, der das Ende der DDR besiegelte, so friedlich ablief. Ein Wunder, bei dem einige Menschen ihre Finger im Spiel hatten. Menschen wie Frank Richter, damals katholischer Geistlicher in Leipzig, der spontan zum Anführer wurde.
In anderen Staaten wären Städte oder Schulen nach ihnen benannt worden. Denkmäler mit ihrem Konterfei würden zentrale Plätze schmücken sie hätten vielleicht sogar ein Präsidentenamt. Die Köpfe der Friedlichen Revolution 1989 in der DDR sind auch 20 Jahre danach stille Helden und weitgehend unbekannt.
Der Brunnen verstummte zur richtigen Zeit
«Der einzige Held war das Volk», wehrt Frank Richter bescheiden und doch kategorisch ab. Der ehemalige katholische Geistliche ist heute Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen. Doch ohne sein Wirken und das seines Kaplan-Kollegen Andreas Leuschner sowie das von Superintendent Christof Ziemer in Dresden, ohne Pfarrer Christian Führer in Leipzig oder den Mut von Thomas Küttler, Superintendent in Plauen, wäre die Oktober-Revolution 1989 womöglich nicht derart schnell zum guten Ende gekommen.
Dass Richter für wenige Stunden zur Leitfigur der ansonsten völlig unorganisierten, weil spontanen Revolution in Dresden wurde, ist auch zwei schier unglaublichen Situationen zuzuschreiben: einem Springbrunnen und einem unkonventionellen Beamten. «Es klingt wie ein Märchen, aber als ich mich am 8. Oktober gegen halb neun auf den Rand eines rauschenden Brunnens auf der Prager Straße stellte, schaltete der ab», erinnert sich der damals 29-jährige Richter. Rund 20 000 Demonstranten konnten den Mann im Kaplangewand gut verstehen.
Der kleine Dialog verhindert Gewalt
Richter rief den vorwiegend Sitzenden zu, dass Menschen für einen Dialog mit dem Staat gesucht würden. «Ich dachte, zehn, das könnte ganz gut gehen. Plötzlich standen 50 Leute da.» Letztlich wählte er mit Leuschner 23 aus - die berühmte «Gruppe der 20». Es sei auf eine gewisse Mischung geachtet worden. Junge, Alte, Studenten, Arbeiter.
«Ja nicht so viele Kirchenleute, das musste eine Sache aller sein», sagt Richter. Am nächsten Morgen sollten diese «20» mit SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer zusammentreffen, der die Abordnung und Ziemer nur widerwillig empfing.
Dem historischen Moment, da der Staat mit seinen Bürgern sprach, ging ein weit wichtigerer voraus. Der kleine Dialog. Richter war vorher zufällig an die Spitze eines Demonstrationszuges geraten und ging auf der Prager Straße mit Leuschner auf eine Kette von Polizisten zu. Beide verlangten nach Verantwortlichen, als ein Mann in Zivil fragte, was Richter wolle. «Ich will keine Gewalt. Holen Sie OB Berghofer her. Der ist für die Stadt zuständig», erzählt Richter. «Das tat der dann auch. Detlef Pappermann. Wir waren fast gleichaltrig. Er umging alle Hierarchien und rief Berghofer an.»
"Das ganze Land schaute auf Leipzig"
Was niemand wusste: Berghofer hatte zeitgleich unfreiwillig Besuch von drei evangelischen Geistlichen, darunter Ziemer. Auch diese drei forderten ein Ende der Gewalt gegen Demonstranten.
Die Nachricht von der «Gruppe der 20» sollte am 9. Oktober Leipzig erreichen. «Das ganze Land schaute auf Leipzig», erinnert sich der Liedermacher und damalige Akteur der Friedensgebete, Martin Jankowski. Schon tagsüber hätten SED-Leute in der Stadt «Druck» gemacht. «Von munitionierten bewaffneten Organen berichteten die allen. Eine gigantische Bedrohungskulisse wurde aufgebaut.»
Das Demonstrieren war in Leipzig schon zur guten Tradition geworden. Unter der Ägide von Pfarrer Führer hatten sich die Teilnehmer der Montagsgebete seit Wochen von der Nikolaikirche aus durch die Stadt bewegt. «An diesem 9.10. aber war die Kirche seit 14.00 Uhr von Genossen besetzt», sagt Jankowski. «Für den normalen Bürger blieben nur die Emporen. Wenngleich es natürlich Quatsch war, dass die SED den Bürger von der Straße weg haben wollte, ihm aber Plätze in der Kirche wegnimmt.» Am Abend sollten dann rund 70 000 Menschen über den Innenstadt-Ring ziehen - zu viel für den Staat.
Feuerwehr setzte Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein
Die Nachricht erreicht umgehend die Dresdner Kirchen, in denen sich Tausende über die «Gruppe der 20» informieren. Die Nachricht erreicht die Berliner Gethsemanekirche, in der seit 2. Oktober eine Mahnwache für politische Gefangene abgehalten wird und wo Bürger über ihre Erfahrungen vom 7. und 8. Oktober berichten, als Hunderte in Prenzlauer Berg und der Ost-Berliner Innenstadt nach Demonstrationen verhaftet oder verprügelt wurden.
Die Nachricht erreicht auch Plauen. Das Vogtland-Städtchen hatte am 7.10. vorgemacht, wie es geht. «Die Demonstration verlief ab 15.00 Uhr in drei Phasen», erinnert sich der einstige Superintendent Küttler. «Zuerst versuchte ein Wasserwerfer der Feuerwehr, die Massen zu vertreiben. Als dem das Wasser ausging, bemühte sich die Polizei.» Ab da hätten sich auch Unbeteiligte dem Protestzug mit 10 000 Menschen angeschlossen. Über dem Volk kreiste drohend ein Hubschrauber.
«Als das Rathaus abgeriegelt wurde, aber die Massen drängten, sagte ich mir, jetzt muss man etwas tun. Mich kannte die Stadtspitze ja.» Nachdem Küttler von einem Polizeiführer eingelassen wurde, fand er die Stadtspitze ratlos vor. Kurz darauf stimmte der Plauener OB nicht nur einem Gespräch mit Bürgern zu. Küttler durfte auch vom Rathaus aus sprechen und öffentlich den Abzug des Helikopters als Zeichen des Friedens fordern. Küttler heute: «Der drehte tatsächlich ab und punkt 18.00 Uhr läuteten die Glocken der Lutherkirche.» (ddp)