Auch Zufälle prägten den Tag des Mauerfalls. So tat ein Stasi-Offizier Dienst, der selbstständig handelte...
Es hat seit Menschengedenken Kriege und Revolutionen bedurft, einen Staat aus den Angeln zu heben. Doch auch einige dürre Zeilen können diese Kraft in sich bergen; jedenfalls war es so an jenem Tag der Deutschen, am 9. November 1989 in Berlin-Ost. „Privatreisen können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Genehmigungen werden kurzfristig erteilt”, las da das SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am frühen Abend der internationalen Presse vor. „Sofort, unverzüglich”, fuhr er auf Nachfrage fort. Ein paar Wörter nur, doch sie werden den Untergang der DDR einleiten.
Ein trüber Novembertag ist dieser 9. Das Zentralkomitee setzt seine Beratungen des Vortages fort. Ein ungeheurer Druck lastet auf der Führung von Staat und Partei. Massenflucht und Demonstrationen erschüttern das Land. Wie lange sind die Menschen noch zu beherrschen? Der als Rücktritt getarnte Sturz des Partei- und Staatschefs Erich Honecker kann das Volk nicht besänftigen. Es will Demokratie, es will nicht länger überwacht, kontrolliert und eingesperrt sein. Die DDR-Führung weiß: Jetzt braucht sie nichts dringlicher als eine Reiseregelung.
An diesem Vormittag sind der Chef der Pass- und Meldeabteilung im Innenministerium, Gerhard Lauter, und ein kleines Team damit beauftragt, die Reiseregelung auszuformulieren. Die Ministervorlage sieht aber nur Regelungen für finale Ausreisen vor. Sie enthält keine Erlaubnis für: „Mal eben rüber in den Westen und wieder zurück.” Doch genau das, meint Lauter, wollen die Menschen. Die Erlaubnis nähme den Druck aus dem Kessel.
Nun geschieht, was in einer noch intakten DDR undenkbar gewesen wäre: Lauter fügt ohne jede Absprache mit den Allmächtigen der SED die wenigen, aber entscheidenden Zeilen über die sofort möglichen „Privatreisen” ein, die jedem DDR-Bürger das beliebige Grenzwechseln erlaubt.
Der Kanzler in Polen
Der Entwurf wird, wie es der Dienstweg vorschreibt, auch zum Zentralkomitee geleitet. Dort nimmt man das Papier zur Kenntnis – und keiner erkennt die Brisanz: Man nickt das Papier ab. Es ist der Text, den Schabowski bei der legendären Pressekonferenz gegen 19 Uhr vorträgt. Dass der Text im Kern die Öffnung der Grenze bedeutet, dämmert den meisten erst ganz allmählich.
Verwirrung, Mutmaßungen, Irritationen und Hektik beherrschen die folgende Zeit. Partei- und Staatsführung sind nicht zu erreichen. Nicht einmal für sowjetische und amerikanische Botschafter und Diplomaten – sie alle, allesamt werden von dem Ereignis total überrascht. Auch Kanzler Helmut Kohl. Es ist auf Staatsbesuch in Polen; was sich in Berlin zuträgt, wird ihm so verlässlich wie möglich mitgeteilt. Kohl: „Wir standen in diesem Moment außerhalb dieser Ereignisse, wir fühlten uns wie auf einem anderen Stern.” Die deutsche Delegation benötigt eine eigene Standleitung zum Lagezentrum daheim. Sie wird wie beim Feldtelefon durch eine Kurbel mit Strom versorgt. Der Kreml schweigt. US-Präsident George Bush (senior) äußert sich vorsichtig. Zu unklar ist noch die Lage.
Doch Ostberlin ist in Bewegung. Am Grenzübergang Bornholmer Straße kommen die Menschen zusammen. Sie kommen zu Fuß, mit dem Rad, mit dem Trabi. Zu Tausenden zählt die Menge, nachdem sie im West-TV Tagesthemen-Moderator Hanns Joachim Friedrichs sagen hörten: „Die DDR hat mitgeteilt, dass die Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore der Mauer stehen weit auf!”
Nur: Die Grenztruppen wissen offiziell von nichts. Die Spannung wächst. Fieberhaft versucht Oberstleutnant Harald Jäger an der Bornholmer Straße, Anweisungen von seinen Vorgesetzten zu erhalten.
Brandgefährliche Lage
Doch ratlos auch sie. Die Lage droht außer Kontrolle zu geraten. Womöglich ist es dem Entschluss des Stasi-Offiziers Jäger zu verdanken, dass kein Schuss fiel in dieser dramatischen Nacht. Denn auch er handelt ohne Absprache mit „oben”, er befiehlt: „Macht den Schlagbaum auf.” Die Bornholmer Straße ist das erste Tor in Berlin, das sich öffnet. Menschen tanzen auf der Mauer. Was folgt, ist bekannt.