Witten. Vor 125 Jahren fuhr die erste Straßenbahn durch Witten - mit mäßigem Erfolg. Doch ausgerechnet nach einer Katastrophe kamen viele Fahrgäste.
Das Wetter war so nass und trüb wie dieser Tage, der Stimmung in der Stadt konnte das aber nichts anhaben. Begeistert sahen die Wittener zu, als die erste Straßenbahn vom Crengeldanz nach Bommern fuhr. Genau 125 Jahre ist das her: Am 4. Januar 1899 wurde die Strecke nach einer Testfahrt von den Behörden abgenommen, einen Tag später durften dann auch Fahrgäste zusteigen. „Gut zwanzig Minuten brauchte die Bahn für die Strecke“, sagt Ludwig Schönefeld. „Viel schneller dürfte der Bus heute auch nicht sein.“
Schönefeld muss es wissen. Seit über 40 Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte der Straßenbahnen im Ruhrgebiet, hat bereits mehrere Bücher zu dem Thema veröffentlicht und betreibt auch die Seite wittener-nahverkehr.de. Schon als Schüler, der täglich von Wattenscheid nach Bochum pendelte, entwickelte der heute 59-Jährige seine Liebe zum Nahverkehr. „Ich habe mich immer mit den Fahrern unterhalten“, erzählt er. Irgendwann habe er den 2008 verstorbenen Bogestra-Arbeitsdirektor Artur Hammer kennengelernt. „Und der hat mich wie einen Enkel adoptiert.“ Erst bekam er Foto-Abzüge, dann auch Dokumente, die nach der Digitalisierung nicht mehr benötigt wurden. Damit baute er nach und nach sein Archiv auf.
Das Buch über die Straßenbahn in Witten erscheint im April
In den 80er-Jahren veröffentlichte Schönefeld seine ersten Bücher, eines über die Straßenbahn im Landkreis Gelsenkirchen, dann über die Straßenbahnen der Stadt Herne, schließlich erschien die Fahrzeuggeschichte der Bogestra. „Witten wäre das nächste Buch gewesen“, versichert er. Doch die beruflichen Verpflichtungen des studierten Historikers, der heute als Kommunikations-Berater in der Schweiz arbeitet, ließen das nicht zu. Doch jetzt soll es bald so weit sein: Im April erscheint das Buch „Die Straßenbahn in Witten. Unterwegs zwischen Kornmarkt, Crengeldanz und Langendreer seit 1899“.
Darin zeigt Schönefeld alte Postkarten und Fotos, erklärt die Strecken und die Fahrzeugtypen. Er schildert auch die Anfänge der Straßenbahn. Mit dem Bau habe man damals ein politisches Zeichen setzen wollen, sagt er. Langendreer und Bommern, damals noch eigenständige Ortschaften, sollten mit der Linie an Witten gebunden werden, ebenso wie Annen, das im März 1899 ans Netz angeschlossen wurde. „Es gab harte politische Auseinandersetzungen um die Gebietsentwicklung“, weiß Schönefeld.
Die Straßenbahn in Witten sollte hochmodern sein
Witten, laut Schönefeld „die damals am weitesten entwickelte Stadt im Revier“, stand 1895 mit Bergbau, Eisen-, Stahl-, Glas- und Seifenindustrie in wirtschaftlicher Blüte. Für den Bau ihrer Straßenbahn hatte die Stadt mit der Firma Kummer in Dresden einen innovativen Partner gefunden. „Alles entsprach dem neuesten Stand der Technik“, so Schönefeld. Von den standardisierten, modernen Weichen bis zu Fahrwerken mit Lenkachsen und der Stromrückgewinnung beim Bremsen. Doch nichts davon funktionierte richtig, es gab hohe Folgekosten. „In Witten hat man viel Lehrgeld gezahlt.“
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Wirtschaftlich sollte die Wittener Straßenbahn auch in den nächsten Jahrzehnten keine Erfolgsgeschichte werden. Die Firma Kummer, die den Bau „auf Treu und Glauben“, also ohne Vertrag und Kostenvoranschlag begonnen hatte, ging schon 1901 in Konkurs. Die Gemeinden mussten finanziell einspringen. Doch auch sie waren mit dem Betrieb der Straßenahn überfordert. Es folgte 1912 der Zusammenschluss mit weiteren Verkehrsbetrieben zur „Westfälischen Straßenbahn GmbH“. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen machte all ihre Pläne zunichte. „Durch die Inflation wurde eine Fahrt mit der Straßenbahn praktisch unerschwinglich“, erklärt Schönefeld.
Sensationstourismus nach der Roburit-Explosion in Annen
Schon zuvor war der Kreis der Fahrgäste eingeschränkt gewesen. Eine Fahrkarte für eine etwa drei Kilometer lange Strecke kostete zehn Pfennig. Das konnte sich nicht jeder leisten. Außer Arbeitern in der Eisenindustrie, denen die Fahrscheine gestellt wurden, hätten vor allem Ausflügler die Bahn genutzt, erzählt der Bochumer. Am Wochenende - oder zu besonderen Ereignissen. „Das stärkste Jahr der Bahn war 1906, weil es nach der verheerenden Roburit-Explosion einen Sensationstourismus nach Annen gab.“
Wer hat noch Straßenbahn-Fotos?
Eine wichtige Quelle für Schönefelds Arbeit sind private Erinnerungen. Deshalb freut sich der Historiker über Unterstützung aus dem Kreis der Leser. Sollten Sie noch ein altes Straßenbahnfoto, vielleicht sogar ein Familienbild, besitzen, können Sie sich per Mail an webmaster@wittener-nahverkehr.de bei ihm melden.
Schon mal vormerken: Am Donnerstag, 6. Juni, um 19 Uhr, hält Ludwig Schönefeld einen Vortrag zur Geschichte der Straßenbahn in Witten beim Märkischen Verein für Geschichte / Verein für Orts- und Heimatkunde im Märkischen Museum an der Husemannstraße 12.
Mehr Infos auf wittener-nahverkehr.de
Doch zurück ins Inflationsjahr 1922. Weil die Gemeinden die Verluste nicht ausgleichen konnten, wurde der Straßenbahnbetrieb im Oktober vollständig eingestellt. Erst mit der Reichsmark sei dann der Mut zu neuen Investitionen zurückgekommen, sagt Schönefeld. Anfang 1924 wurden der Linienverkehr wiederaufgenommen und neue Projekte gestartet. „Das spektakulärste war der Bau der Überlandstrecke von Witten nach Herbede“, so der Experte.
Nach dem Konkurs ging alles an die Bogestra
Am 1. Oktober 1929 wurde die Strecke bis zur Herbeder Ruhrbrücke eröffnet. Doch gebaut worden war sie mit geliehenem Geld. „Als der Hauptgläubiger in der Weltwirtschaftskrise die Rückzahlung einforderte, geriet die Westfälische Straßenbahn in wirtschaftliche Schieflage“, erklärt Schönefeld. 1932 folgte die nächste Insolvenz, 1937 wurde das Konkursverfahren mit einem Zwangsvergleich beendet: „Alle Sachwerte der Gesellschaft wurden der Bogestra übereignet.“
Fotostrecke: Eine Straßenbahn-Fahrt in vergangene Zeiten
Viele Strecken sind seitdem stillgelegt worden. Die Linien nach Castrop und in Langendreer wurden 1951, die Linie nach Annen 1985 eingestellt. Die Straßenbahn habe dennoch nichts von ihrer Bedeutung verloren, betont der 59-Jährige. Ihre Linien würden bis heute die Hauptachsen im Ruhrgebiet markieren, viele Menschen hätten sich entlang der Strecken angesiedelt, sagt der Historiker, den die Verbindung von Nahverkehr und Stadtentwicklung bis heute fasziniert.
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Außerdem habe inzwischen eine Rückbesinnung eingesetzt. Dort, wo Verkehr auf Dauer nötig ist, seien Bahnen das finanziell und ökologisch nachhaltigere Verkehrsmittel, das hätten viele Länder und Städte inzwischen erkannt. Auch die Strecke von Witten nach Langendreer wurde 2020 wiederbelebt. Ludwig Schönefeld ist sicher: „Straßenbahnen haben Zukunft.“