Witten. In seinem neuen Buch erklärt Prof. Tobias Esch, warum Bedeutung so wichtig für die Gesundheit ist. Und fragt: „Wofür stehen Sie morgens auf?“

Glücksforscher Tobias Esch hat ein neues Buch geschrieben. In „Wofür stehen Sie morgens auf?“ geht der Neurowissenschaftler der Frage nach, was der heutigen Medizin fehlt, um nachhaltig für Heilung zu sorgen. Im Interview erklärt der Professor der Uni Witten, warum Bedeutung so wichtig für die Gesundheit ist – und wie diese Erkenntnis die Behandlung etwa von Burn-out-Erkrankungen auf den Kopf stellen wird.

Prof. Dr. Esch, Sie haben übers Glück geschrieben, über die Selbstheilungskräfte, über die zweite Lebenshälfte. Jetzt geht es um die Wichtigkeit von Sinn und Bedeutung für die Gesundheit. Ist das ein anderes Thema oder eher die Fortsetzung ihrer Studien?

Tobias Esch: Es ist eigentlich eine logische Weiterentwicklung. Ausgangspunkt waren meine Forschungsergebnisse zum Thema Glück. Ich habe festgestellt, dass die älteren Menschen in unserer Gesellschaft häufig zufrieden sind – obwohl doch eigentlich vieles dagegen spricht, könnte man meinen. Selbst 90 Prozent der 100-Jährigen sind zufrieden mit dem Leben, gesund ist von denen aber keiner mehr. Deswegen habe ich mir die Frage gestellt: Haben Gesundheit und Glück vielleicht wenig miteinander zu tun? Oder ist unsere Definition von Gesundheit einfach nicht ausreichend?

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Und deshalb haben Sie die Gründe für die Zufriedenheit erforscht?

Einerseits ja. Andererseits habe ich mir aber auch die Patienten genauer angeschaut, die immer wieder zu uns in die Praxen kommen. Bei denen wir Burn-out, chronische Schmerzen oder etwa Herz-Kreislauf-Leiden behandeln und doch ahnen: Ihr Problem ist ein ganz anderes. Deshalb bin ich auf die Suche nach dem fehlenden Faktor gegangen. Den Faktor, der neben objektiven, messbaren Ursachen über das Befinden entscheidet. Und ich habe entdeckt: Den finde ich nicht in Röntgenbildern, den müssen wir in den Personen selbst suchen, sie ausdrücklich danach fragen.

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Diesen Faktor nennen Sie die „vierte Dimension“ der Gesundheit: die Bedeutsamkeit. Ihr müsse ebenso wie den drei anderen – der körperlichen, der mentalen und der sozialen Dimension – Beachtung geschenkt werden. Was meinen Sie damit?

In der vierten Dimension geht es um das Erleben von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit im Leben, also um das Gefühl der Verbundenheit – mit einem Menschen, einer Kultur, einer Nachbarschaft oder einem Haustier, ganz egal. Um das Gefühl, lieben zu können, geben zu können oder auch glauben zu können. Auch Spiritualität gehört hier hinein.

Das Buch kommt am 2. November auf den Markt.
Das Buch kommt am 2. November auf den Markt. © gräfe & Unzer | Verlag

Mit der Hypothese, dass diese vierte Dimension entscheidend sein könnte, starteten Sie ein mehrjähriges Forschungsprojekt.

Und das brachte den Durchbruch. Wir fanden heraus, dass beispielsweise das Auftreten von Burn-out fast vollständig aufgeklärt werden kann, wenn man die vierte Dimension in der Diagnose berücksichtigt. Ein Mensch, der so im Einklang mit der Welt und sich selbst ist, wird kaum ein Burn-out erleiden – selbst wenn der Arbeitsstress objektiv hoch, vielleicht sogar unverantwortbar hoch ist. Diese Erkenntnis ist eine völlig neue Zündstufe: Damit kann man die Krankheit anders fassen, anders behandeln.

Und Sie meinen, dieser Ansatz fehlt in der Medizin bislang?

Unbedingt. Ich bin sicher, diese vierte Dimension, die Bedeutsamkeit, wird in der Medizin bislang dramatisch unterschätzt – in vielen Bereichen. Die Daten sprechen eindeutig dafür. Angesichts unserer Ergebnisse haben viele Kollegen große Augen gemacht und gesagt: ,Ja, genau so ist es – bei den meisten meiner Patienten weiß ich, dass der Kern ihrer Krankheit ganz woanders liegt.’ Unsere Forschung hat gezeigt: Der Kern liegt in der Beantwortung dieser Frage: Wofür stehen Sie morgens auf? Denn wer darauf keine Antwort hat, für den wird es schwer, wenn eine Krise kommt.

Für wen ist Ihr Buch geschrieben? Für Ärzte, für Patienten? Für Glückliche oder Unglückliche?

Auch wenn es doof klingt: für alle. Denn auch ich selbst tauche darin auf als Arzt und Patient, als Wissenschaftler und Betroffener. Als jemand, der sich selbst hinterfragt. Und das Buch ist ein Angebot, diese Reise, die Suche, auf die ich mich begeben habe, mit mir gemeinsam nachzuvollziehen.

In dem Buch berichten Sie von Forschungsergebnissen, erzählen Geschichten von Patienten, geben Anleitung für Achtsamkeitsübungen. Eine ungewöhnliche Mischung. Was für eine Art Buch soll das sein?

Auf jeden Fall keiner von den Ratgebern, die man zu den anderen im Regal stellt. Ich bin kein Oberlehrer, sondern Arzt. Ich will Mut machen und den Lesern die Augen öffnen für das Potenzial für Heilung, das wir in uns selbst finden können. Es geht auch nicht um Wellness oder um Chichi. Sondern um den ganz konkreten Zugang zur Gesundung über Sinnhaftigkeit, Bedeutung und Verbundenheit.

Mit diesem Ansatz sind Sie nicht von allen Kollegen mit offenen Armen empfangen worden. Bei der Eröffnung der Uniambulanz gab’s reichlich Gegenwind von der Wittener Ärzteschaft. Auch das schildern Sie in Ihrem Buch.

Ja, ich habe die Geschichte so aufgeschrieben, wie sie war. Aber unser Verhältnis hat sich ja schließlich zum Guten entwickelt – und wir haben niemandem etwas übel genommen.

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Ist die Ambulanz trotz der anfänglichen Widerstände ein Erfolgsmodell geworden?

Unbedingt. Wenn man sich die Auswertung unserer Daten ansieht, dann geht man auf die Knie. Was wir an Veränderung, Verbesserung bei den Patienten sehen, das ist schon sehr ungewöhnlich in der Medizin. Solche Ergebnisse muss man lange suchen, deswegen kommen Kollegen inzwischen von weit her, um sich den Wittener Ansatz anzusehen. Ein erster, wichtiger Schritt in die Zukunft, ein gemeinsames Lernen.

Haben Sie denn Hoffnung, dass sich die „vierte Dimension“ künftig in der Medizin durchsetzen wird?

Ja, ob kürzlich beim Weltkongress für Integrative Medizin, bei der WHO oder in New York: Ich sehe, dass die Themen überall angekommen sind. Bei der ganz konkreten Umsetzung in den Praxen vor Ort hapert es allerdings noch. Da ist Witten führend – aber eben relativ allein. Noch.

Prof. Dr. Tobias Esch: Wofür stehen Sie morgens auf?: Warum Sinn und Bedeutung entscheidend für unsere Gesundheit sind. Gräfe und Unzer, 240 S., 24 Euro.