Witten. Sabine Engelhardt und Dirk Hannemann behandeln die Ärmsten der Armen von Kalkutta in Indien. Über Freud und Leid ihres Einsatzes.

Während andere die ersten Weihnachtsgeschenke eingekauft haben, hat das Wittener Ehepaar Sabine Engelhardt und Dirk Hannemann seine Koffer für eine ganz besondere Reise gepackt. Anfang Dezember ging es für die Mediziner für einen Monat nach Indien. Aber nicht um Land und Leute kennenzulernen, sondern um zu arbeiten.

Für die Hilfsorganisation „German Doctors“ (Deutsche Ärzte) haben Hannemann und Engelhardt das beschauliche Witten für vier Wochen gegen die wild pulsierende Millionen-Metropole Kalkutta und deren Slums getauscht. Die Ärmsten der Armen wolle die Organisation erreichen, erzählt Dirk Hannemann. Und für diese eine Basisversorgung schaffen.

Sabine Engelhardt und Dirk Hannemann sind  für die Organisation „German Doctors“ nach Indien gereist.
Sabine Engelhardt und Dirk Hannemann sind für die Organisation „German Doctors“ nach Indien gereist. © Engelhardt

Dazu hat die Organisation, die sich seit 1983 in der Großstadt engagiert, kleine Anlaufstellen für die Bevölkerung geschaffen. Dort finden regelmäßig Sprechstunden statt. Meist seien das angemietete Räume in einfachen, gemauerten Hütten. „Stellen Sie sich eine Abstellkammer vor. Ohne Fenster, aber dafür mit etwas Ruhe“, beschreibt Sabine Engelhardt die Situation vor Ort.

Menschen stehen stundenlang Schlange

Ohnehin gebe es in Indien so gut wie keine Privatsphäre. 24 Stunden werde man mit einem Hupkonzert dauerbeschallt. In kleinen Teams fahren die wechselnden deutschen Ärzte die verschiedenen Stationen an, die über die Metropolregion verteilt sind. Unterstützt werden sie durch langjährige indische Mitarbeitende.

Je weiter sich die Ärzte in das ländliche Umfeld begeben, desto länger sind auch die Strecken derer, die sich untersuchen lassen wollen. „Manche sind stundenlang mit dem Zug unterwegs, stehen dann stundenlang in der Schlange. Das ist ein enormer Aufwand, aber die Leute nehmen das in Kauf“, sagt Dirk Hannemann. Denn eine wirkliche Alternative haben sie nicht. „Im ländlichen Bereich gibt es gar keine Ärzte.“

In Indien kann sich kaum jemand den Arztbesuch leisten

Und in der Stadt? Einen richtigen Arzt könnten sich die meisten Menschen schlicht und einfach nicht leisten, sagt der 57-Jährige. Dabei gebe es in Indien Spitzenmedizin auf hohem Niveau. „Aber das kostet irre viel.“ Zudem gebe es keine Krankenversicherung. Dafür aber Klinik-Ambulanzen, die kostenlos behandeln. „Da stehen dann morgens 1000 Menschen an.“ Zudem wüssten viele der Slumbewohner gar nicht, dass es diese Möglichkeit überhaupt gibt.

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Sabine Engelhardt im Untersuchungsraum in Santoshpur, einem im Süden Kalkuttas gelegenen Stadtteil.
Sabine Engelhardt im Untersuchungsraum in Santoshpur, einem im Süden Kalkuttas gelegenen Stadtteil. © Engelhardt

Auch die Ambulanzen der German Doctors sind gut besucht – und kostenlos. „Unserer Patienten stehen manchmal schon seit mitten in der Nacht an, wenn wir kommen“, erzählt Engelhardt. Dann müsse man erst einmal die Schlange abgehen und diejenigen herausfischen, die schwer erkrankt sind, um sie zuerst zu behandeln. Etwa 120 Patienten am Tag schafft ein Team aus drei Ärzten pro Tag. „Und zur Zeit können wir auch alle behandeln“, so Hannemann. Das liegt auch am günstigen Wetter. Denn aktuell ist in Indien Winter. Sprich 26 bis 30 Grad am Tag, bis 15 Grad in der Nacht. Und kein Regen. Dafür ist die Luftverschmutzung ein großes Problem.

Deutsche Ärzte behandeln sehr viele Tuberkulose-Kranke

Die beiden Mediziner aus Witten haben schon sehr viele Tuberkulose-Kranke behandelt. Eine Krankheit, die in Deutschland fast gar nicht mehr vorkommt, in den Armutsvierteln Kalkuttas aber wegen der großen Enge weit verbreitet ist. Ebenso Lungenentzündungen, Krätze, chronische Bronchitis oder entzündliche Hauterkrankungen. „Die Leute nutzen als Brennmaterial zum Kochen Kuhfladen – und zünden sie mitten in der Hütte an“, sagt Sabine Engelhardt. Gerade in den ländlichen Bereichen sehe man häufig schwere Krankheitsverläufe – eben weil die Menschen lange zuvor keinen Arzt gesehen haben.

Meist haben sich schon lange Warteschlangen vor den Sprechstundenzimmern der German Doctors in Kalkutta gebildet, wenn die Ärzte dort eintreffen. Das Foto stammt aus Bojerhat, einem kleinen Dorf unweit der riesigen Metropole.
Meist haben sich schon lange Warteschlangen vor den Sprechstundenzimmern der German Doctors in Kalkutta gebildet, wenn die Ärzte dort eintreffen. Das Foto stammt aus Bojerhat, einem kleinen Dorf unweit der riesigen Metropole. © Engelhardt

Mit einfachen Maßnahmen viel erreichen

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Doch trotz all des Leids gibt es auch viele schöne Momente für die zwei Ärzte. Etwa, wenn eine junge Mutter mit ihrem Neugeborenen zur ersten Untersuchung kommt – und dann alles in Ordnung ist. Viele Erkrankungen, die die beiden sehen und die sonst in Kalkutta schnell zu einer lebensbedrohlichen Infektion werden könnten, lassen sich einfach mit Antibiotikum behandeln. Die „German Doctors“ betreiben auch Vorsorge, etwa mit Vitamin-D-Tabletten, Eisen oder Folsäurepräparaten für Schwangere. „Oft sind es einfache Maßnahmen, die viel helfen“, so Hannemann.

Warum machen die beiden das? „Wir leben hier so privilegiert, da muss man ab und zu auch etwas zurückgeben“, sagt die Internistin, die bis Anfang 2021 als Hausärztin an der Ruhrstraße praktiziert hat. Gleichzeitig gebe es einem selbst ein gutes Gefühl, anderen zu helfen. Ganz pragmatisch sieht das ihr Mann, der seine Praxis in Bommern Mitte 2020 aufgegeben hat. „Ich habe die Möglichkeit zu helfen: zeitlich, finanziell und fachlich. Da fände ich es schwierig, das nicht zu tun.“ Natürlich gehöre auch ein bisschen Abenteuerlust dazu. Neue Pläne gibt es ebenfalls schon. Nächste Station für Dirk Hannemann könnte Madagaskar sein.

Engagement in der Seenotrettung

Die German Doctors helfen nicht nur in Indien. Weitere Einsatzorte sind Kenia, Bangladesch, die Philippinen und Sierra Leone. Die Organisation engagiert sich aber auch in der Flüchtlings­hilfe in Griechenland und kooperiert mit der Seenot­rettungs­organisation Sea-Eye 4.

Ärzte aus Deutschland nehmen in der Regel ihren sechswöchigen Jahresurlaub und arbeiten ehrenamtlich für diese Zeit in einem der Projekte mit. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Spende gibt es unter german-doctors.de