Witten. Gibt es in diesen Zeiten eigentlich einen Grund zur Freude und zur Hoffnung? Ja, sagt der Wittener Pfarrer Tim Winkel und erklärt, warum.
Alle Jahre wieder: Feiern wir Weihnachten, gehen vielleicht in den Gottesdienst, warten aufs Christkind. Ist das eigentlich in diesen Zeiten noch zeitgemäß? Können die Pfarrerinnen und Pfarrer angesichts von Krieg und Krise überhaupt noch Zuversicht von den Kanzeln verkünden? Wir haben kurz vor Heiligabend mit Tim Winkel darüber gesprochen. Der 41-Jährige ist der neue evangelische Pfarrer in Bommern. Was darf seine Gemeinde zur Christvesper erwarten?
Herr Winkel, haben Sie Ihre Predigt schon fertig?
Winkel: Tatsächlich stand bis zu Ihrer Interviewanfrage nur das Grundgerüst. Jetzt habe ich Ihren Anruf zum Einstieg gemacht.
Mal ehrlich, haben Sie so eine Weihnachtspredigt nicht schon in der Schublade liegen?
Nein, niemals. Es gibt vielleicht Kollegen, die sich schon im Sommer daransetzen. Aber ich kann das nicht. Fürs Krippenspiel, klar, das geht. Aber für die Predigt brauche ich die Adventszeit, um zu wissen, wo wir gerade stehen.
Wo wir stehen – warum ist das denn für die Weihnachtsbotschaft wichtig?
Ich habe in der Ausbildung gelernt, dass eine Predigt immer interessant und relevant sein sollte. Und mit der Relevanz ist es bei zuckersüßer Weihnachtsromantik nicht weit her – so sehr ich sie selbst auch mag. Aber wenn wir an Heiligabend in der Kirche sitzen, bleibt die Welt ja nicht draußen. Die Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint.
Also Politik statt Romantik?
Kommt darauf an. Politisieren sollte eine Predigt nicht. Parteipolitisch darf sie nie sein, politisch aber immer. Denn schon wenn ich vom Frieden predige, ist das politisch.
Was ist denn politisch an der Weihnachtsgeschichte?
Wir müssen uns klarmachen: Das war damals auch keine heile Welt. Maria und Josef lebten unter einer Besatzungsmacht, die waren nicht auf dem Weg in den Urlaub. Meinen Konfirmanden habe ich früher immer gesagt: Das ist eigentlich eine Geschichte von RTL II. Eine Brennpunkt-Familie, Frau ungewollt schwanger, der Kindsvater unklar. Da ist ganz viel Sprengstoff drin. Das ist spannend und das sollte man nicht glattbügeln.
Mittagessen an Heiligabend
Pfarrer Tim Winkel hat im August die Nachfolge von Jürgen Krüger angetreten. Der 41-Jährige ist ein gebürtiger Sauerländer und war die letzten zehn Jahre im Siegerland im Dienst. Nun wohnt er mit seinem Lebensgefährten in Bommern. Die Wittener hätten ihn „mit ihrer direkten Art mit offenen Armen empfangen“, sagt er. „Der Neuanfang ist geglückt.“
Am 24. Dezember lädt die ev. Gemeinde Bommern von 12 bis 14 Uhr erstmals alle Interessierten zum gemeinsamen Mittagessen ein. Wer möchte, kann noch dazukommen. Auch im Januar und Februar wird das Gemeindehaus am Bodenborn 48 jeden Mittwoch und Donnerstag ab 14.30 Uhr geöffnet sein. Jeder kann dort dann einen Kaffee trinken, klönen, sich aufwärmen oder einfach in Gesellschaft sein. Um 17 Uhr findet die Christvesper statt, in der Pfarrer Winkel predigt.
Aber wie kriegen Sie die Kurve zur aktuellen Situation im Land?
Über die Kernbotschaft. Denn „Fürchtet Euch nicht!“ heißt es da. Damals gab es auch große Angst. Es heißt zwar nicht: Alles wird gut. Aber es heißt, dass wir Menschen uns nicht fürchten müssen, weil wir nicht allein sind. Weil Gott bei uns ist. Vielleicht allerdings auf eine andere Weise, als wir uns vorstellen können.
Verstehen Sie, wenn die Menschen gerade das derzeit nicht mehr glauben können?
Unser christlicher Glaube war schon immer eine Herausforderung. Gott als Kind in der Krippe, als leidender Mensch – das ist doch eigentlich widersinnig. Heldensagen gehen anders. Aber unser Gott kommt eben nicht mit einer Armee, die einfach dazwischendrischt. Er kommt als Friedensfürst.
Können Sie das angesichts von Krieg und Leid wirklich predigen?
Es wäre natürlich naiv anzunehmen, der Krieg ginge vorbei, nur weil wir in der Kirche sitzen. Oder er würde auch nur unterbrochen, weil wir beten. Aber gerade deshalb müssen wir Weihnachten auch in diesem Jahr feiern, und zwar ganz bewusst. Als trotziger Kontrapunkt, um klarzumachen: Da ist damals in Bethlehem etwas passiert, das der Welt eine Wendung gibt. Und diese Wendung ist auch 2022 nicht abbestellt worden. Deshalb kann und wird unser Jubel an Heiligabend erklingen.
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Mit „Gloria“ und „Stille Nacht“. Können Sie da einstimmen?
Ja, denn nicht nur die Aktualität, auch die Tradition gehört zu Weihnachten. Und wenn am Ende des Gottesdienstes die Lichter am Tannenbaum leuchten und „Oh du Fröhliche“ gesungen wird, dann ist es gut, wenn das Deckenlicht in der Kirche hoffentlich ausgeschaltet ist. Denn dann packt es auch mich immer wieder. Wenn nur ein Funke dieser Weihnachtsfreude auf die Menschen überspringt und mit nach Hause genommen wird, dann ist es gut. Denn das braucht die Welt.