Witten. Viele Menschen in Witten und im Kreis leiden derzeit unter einem Atemwegsinfekt. Im schlimmsten Fall haben sie die richtige Grippe. Die Folgen.
Bei Frida (6) fehlt die halbe Klasse, bei Ludwig (9) sind es jeden Tag mindestens fünf Kinder, die zuhause bleiben. Auch die Reihen der Lehrer und Erzieherinnen sind momentan stark ausgedünnt – um nur zwei Beispiele zu nennen. Selten litten so viele Menschen wie jetzt unter einem Atemwegsinfekt. Nicht wenige plagt sogar die richtige Grippe (Influenza). Nicht nur das Kreisgesundheitsamt schlägt Alarm.
„Die Krankenhäuser im EN-Kreis sind bis unter das Dach voll“, sagt Amtsärztin Dr. Sabine Klinke-Rehbein (53). Es gebe wieder viele Covid-Fälle, aber auch andere Infektionsfälle wie die Influenza. Die Lage sei so angespannt, dass der Rettungsdienst Probleme habe, freie Betten zu finden.
Immer öfter steckt sich auch das medizinische Personal an. So fehlt in der großen Hausarztpraxis von Dr. Arne Meinshausen (65) derzeit die Hälfte der Arzthelferinnen. „Wir haben schon eine Kollegin aus dem Ruhestand zurückgeholt“, sagt der Geschäftsführer der Ärztlichen Qualitätsgemeinschaft Witten (ÄQW). Allein am Montag habe er 180 Infekte behandelt, „davon nur zehn Prozent Corona. Der Rest waren Grippe, Halsentzündungen und grippale Infekte“. Meinshausen weiter: „Wir sind in einer Rieseninfektwelle, die hauptsächlich von den Kindern ausgeht.“
Die Folgen für Familien, Schulen und Kindergärten sind drastisch. Die Hüllbergschule stand schon kurz vorm Distanzunterricht, weil mindestens ein Drittel des Lehrpersonals (und der Kinder) fehlt. „Wir haben die Stundentafel deutlich reduziert, von sechs auf vier Stunden“, sagt Kevin Mroz (34) als Vertretung der Schulleitung. „Wäre noch ein Kopf weggebrochen, wäre uns nichts anderes übrig geblieben, als zwei Klassen zuhause zu lassen“. Auch der Offene Ganztag sei stark betroffen. Mroz: „Der Notstand ist so groß, dass seitens der Trägers nicht mal Vertretungen durch andere Schulen angeordnet werden können.“
„Hohes Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, Halsschmerzen mit Schluckbeschwerden, mit oder ohne Husten, auch häufig Ohrenschmerzen“ – so beschreibt Dr. Franziska Hammerschmidt aus Rüdinghausen die gängigen Symptome vieler Patienten derzeit. Die Erkrankungswelle ziehe sich durch alle Alters- und Berufsgruppen. Hammerschmidt: „Interessanterweise gibt es in den Pflegeheimen weniger Betroffene, vielleicht auch aufgrund der dort noch bestehenden Maskenpflicht.“
Das Ende der Maskenpflicht macht sich in Witten und im Kreis bemerkbar
Tatsächlich waren die letzten beiden Corona-Winter mit anhaltender Maskenpflicht weniger schlimm. „Die Erreger hatten viel Zeit, um das Immunsystem jetzt anzugreifen“, beschreibt Ärztesprecher Meinshausen eine der Ursachen, warum die Welle jetzt schon so früh tobt. „Wir sind es gewohnt, dass die Grippewelle sonst erst im Februar, März richtig Fahrt aufnimmt“, sagt Kreisgesundheitsamtsleiterin Klinke-Rehbein.
Sie hat am Freitag die neuesten Zahlen parat: Im EN-Kreis mit Witten wurden bis jetzt 605 offizielle Grippekranke gezählt – und das sind nur die gemeldeten. Im Vorjahr gab es zum jetzigen Zeitpunkt erst zwei. Bleibt die Frage, so Klinke-Rehbein, ob das frühe Auftreten der Grippewelle „ein schlechter Vorbote“ ist oder ob ihr bald schon wieder „die Luft ausgeht“. Mit Letzterem rechnet die Amtsärztin nicht, gerade auch im Hinblick auf Weihnachten und viele Familientreffen.
Die Schulen und Kitas sehnen die Weihnachtsferien geradezu herbei. In der Kita „Wirbelwind“ in Annen, einem kleinen Kindergarten, liegt derzeit die Hälfte der zehn Mitarbeitenden und der 20 Kinder flach. Die Öffnungszeiten wurden bereits verringert, von 50 auf 40 bis 45 Stunden. Zumindest muss nicht mehr jeder zum Arzt, um sich krankschreiben zu lassen. Das geht bis März auch telefonisch. Trotzdem bildete sich in der Hausarztpraxis im „Rathaus der Medizin“ in Herbede jüngst eine lange Schlange – von der Apotheke im Erdgeschoss bis zur ersten Etage. Die Welle ist noch lange nicht gebrochen.