Witten. Fast ein ganzes Berufsleben lang war Oliver Gengenbach Notfallseelsorger in Witten. Wie hält man es aus, so viel Leid zu ertragen? Ein Interview.
Sein ganzes Berufsleben lang war Pfarrer Oliver Gengenbach in Witten tätig. 1987 trat er hier beim Diakoniewerk Ruhr seine erste Pfarrstelle an. Nur wenige Jahre später wurde er einer der ersten Notfallseelsorger Deutschlands. Er baute die Notfallseelsorge für Witten und Hattingen auf und leitet sie bis heute. An diesem Samstag (17.9.) wird der 65-Jährige nun in den Ruhestand verabschiedet. Im Interview erzählt der Wittener, warum der Tod ihn schon sein ganzes Leben begleitet hat, wie man es aushält, so viel Leid zu erleben, und warum ihm der Job trotzdem Freude gemacht hat – meistens zumindest.
Herr Gengenbach, nach dem Vikariat haben Sie zunächst als Krankenhausseelsorger im Ev. Krankenhaus und in der Krankenpflegeschule gearbeitet. Wie sind sie von dort zur Notfallseelsorge gekommen?
In den Jahren 1989/90 habe ich eine Veranstaltungsreihe zur Sterbebegleitung geleitet. Zu den monatlichen Vortragsabenden kamen bis zu 300 Zuhörer aus ganz NRW – es war toll, Wahnsinn. Das war praktisch mein Gesellenstück. Anschließend fragte mich ein Diakon aus dem Martineum, ob die Notfallseelsorge nicht etwas für mich wäre. Nicht nur für Privatleute, man müsse sich auch mehr um die Einsatzkräfte von Feuerwehr und Rettungsdienst kümmern. Die hatte man ja damals noch gar nicht im Blick. So wurde ich einer der sieben ersten Notfallseelsorger Deutschlands. Obwohl ich erst gezögert hatte – denn ich hatte bis dahin gar keine Verbindung zur Feuerwehr.
Und wie haben Sie die dann bekommen?
Der damalige Feuerwehr-Chef Hans-Joachim Donner hat gleich ganz klar gesagt: Wenn du das machen willst, musst du die Truppe kennenlernen. So habe ich dann zunächst einen Monat lang ein Praktikum auf der Wache gemacht, den normalen Dienst begleitet, war bei Einsätzen dabei. Ich habe dann auch noch eine Ausbildung zum Freiwillige Feuerwehrmann gemacht. Das war unheimlich spannend. Seither habe ich mich diesem Bereich verschrieben.
Dann erklären Sie doch bitte kurz: Was macht ein Notfallseelsorger denn eigentlich?
Wir können jederzeit über die Kreisleitstelle gerufen werden. Wir kommen, wenn jemand gestorben oder verunglückt ist und die Angehörigen Hilfe brauchen. Häufigster Grund sind übrigens häusliche Todesfälle, ein Herzinfarkt etwa oder ein Suizid. Wenn wir alarmiert werden, sind wir in 20 Minuten da – auch nachts.
Wie viele Mitarbeiter haben Sie in Ihrem Team, um das leisten zu können?
Wir sind je 15 Seelsorger für Witten und für Hattingen. Nicht nur Pfarrer, auch Ehrenamtliche etwa vom ASB oder Roten Kreuz. Sogar einen Feuerwehrmann haben wir dabei. Die machen alle einen tollen Job.
Ein toller Job – was heißt das? Wie können Sie in solchen dramatischen Situationen Trost spenden?
Ach, Trost spenden, das ist vielleicht schon zu viel gesagt. Es geht darum, die Menschen in ihren schwersten Stunden nicht allein zu lassen. In einem solchen Moment macht man nicht viele Worte, erklärt nicht die Welt. Sondern ist einfach da. Das ist meist schon genug.
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Aber eine schwere Aufgabe. Warum nimmt man freiwillig diese Last auf sich?
Wir machen es, weil wir es können. Weil wir es aushalten können. Weil es ein gutes Gefühl ist, etwas zu tun, das wirklich wichtig ist. Zu wissen, wie sinnvoll die Arbeit ist, hilft auch, das Erlebte auszuhalten. Aber natürlich ist es oft auch sehr schwer, vor allem, wenn Kinder zurückbleiben. Wenn man nicht weiß, wie es mit ihnen weitergehen soll.
Was hilft Ihnen dann, bei so viel Schmerz und Trauer, die Sie sehen?
Wir sind ein gutes Team, wir tauschen uns aus. Das erleichtert sehr. Auch Humor hilft, wie man an Sachen herangeht. Und schließlich ist da auch das Gebet. Manchmal kann ich das, was an offenen Enden übrig bleibt, nur in Gottes Hände legen. Dann fahre ich zurück und bete: „Lieber Gott, nun sieh du zu.“
Und was ist, wenn die Betroffenen nicht an Gott glauben?
Das spielt für unsere Arbeit letztlich keine Rolle. Wir verstehen uns so, dass wir für alle Menschen da sind, auch für die ohne christlichen Hintergrund. Und wir erleben, dass wir auch bei denen willkommen sind. Auch bei Menschen mit anderen Religionen sind wir noch nie abgelehnt worden. Die Geste, für jemanden da zu sein, versteht jeder.
Die Verabschiedung
Oliver Gengenbach wird als am Samstag (17.9.) als Pfarrer für Notfallseelsorge in den Ruhestand verabschiedet. Als Fachberater Seelsorge bei der Feuerwehr bleibt er aber im Dienst. Auch die Bundesvereinigung für Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (SbE) mit ihrem Institut in Witten wird er weiterhin leiten.
Die Verabschiedung beginnt um 17 Uhr mit einem Gottesdienst im Lukaszentrum, Pferdebachstraße 39a. Gäste sind willkommen. Es wird gebeten, getestet zu erscheinen und eine Maske zu tragen.
Ist Ihnen das Gottvertrauen in all den Jahren angesichts des vielen Leids nie abhandengekommen?
Nein. Gerade auch im Leid ist Gott anwesend, davon bin ich überzeugt. Der Wunsch, davon verschont zu bleiben, ist leider Illusion. Das weiß ich aus eigenem Erleben. Meine Mutter starb bei der Geburt meines Bruders, als ich erst ein Jahr alt war, mein Bruder wurde mit 13 Jahren überfahren. Der Tod gehörte immer zu meinem Leben. Trotzdem ist mein Gottesbild nicht zerbrochen, ich fühlte mich trotz allem immer gut aufgehoben. Jesus hatte es schließlich auch nicht leicht. Und außerdem: Glück und Unversehrtheit sind nicht dasselbe. Man kann auch als Versehrter glücklich sein. Und versehrt sind wir doch letztlich alle irgendwie.
Aber gab es auch eine Situation, die sie bei allem Gottvertrauen in den Grundfesten erschüttert hat?
Ja, die Anschläge vom 11. September in New York. Ein halbes Jahr vorher war ich noch da, habe mit den Feuerwehr-Kollegen zusammen gelebt. Im November 2001 stand ich wieder am Ground Zero. Das ist immer noch tief in mir. Das krieg ich nicht aus den Knochen.
Eine solche Belastung ist bestimmt auch für Ihre Familie nicht immer leicht gewesen.
Das stimmt, und ich möchte mich bei meiner früheren und meiner jetzigen Frau sowie den drei Töchtern ausdrücklich bedanken, dass sie den Dienst immer mitgetragen haben. Sie haben von den vielen, oft nächtlichen Einsätzen manches mitbekommen – manchmal vielleicht etwas zu viel.
Sind sie froh, dass es damit nun vorbei ist?
Ja, es ist ein gutes Gefühl, nun entpflichtet zu werden. Und ich weiß, dass das Team gut aufgestellt. Es wird auch ohne mich zurechtkommen. Meine Nachfolge ist bereits ausgeschrieben. Und ich freue mich auf Törns mit meinem Holzsegelboot, das schon in Friesland liegt.