Witten. Die Erdelmanns haben ihr Backstübchen in Witten-Herbede für immer geschlossen. Am letzten Tag flossen Tränen. Doch es gibt eine Überraschung.

Diesen Freitag hatten die Erdelmanns gleichzeitig ersehnt und gefürchtet. Denn es ist ihre letzte Schicht im Backstübchen an der Meesmannstraße in Witten-Herbede. Das Paar hat selbst entschieden, dass jetzt Schluss ist. Trotzdem geht damit natürlich auch eine 93 Jahre alte Tradition im Dorf zu Ende. Viele kommen, um sich zu verabschieden. Tränchen fließen, aber auch der Sekt.

Wittener Bäckerpaar bedankt sich bei treuen Kunden

„Ihr wart erste Sahne. Wir sagen Danke.“ Das steht auf dem Schild, das Anja und Bernd Erdelmann für ihre treuen Kunden ins Schaufenster gehängt haben. Dass es alle Kuchen und Torten an den letzten beiden Tagen zum halben Preis gibt, lässt den Laden noch mal richtig brummen. Doch die meisten kommen auch, um sich zu verabschieden. Luftküsschen hier, Schulterklopfen dort.

Genießen ein letztes Mal den Kuchen bei Bernd und Anja Erdelmann: die Gäste Bernd und Andrea. Im Hintergrund: die Wand mit den antiken Backutensilien.
Genießen ein letztes Mal den Kuchen bei Bernd und Anja Erdelmann: die Gäste Bernd und Andrea. Im Hintergrund: die Wand mit den antiken Backutensilien. © FUNKE Foto Services | Barbara Zabka

Bernd Erdelmann allerdings verschläft den trubeligen Vormittag. Der 63-Jährige, der seit elf Jahren immer ab vier am Ofen steht, musste eine Doppelschicht einlegen. Denn am frühen Morgen war die Backstube schon einmal leergekauft. „Viele, die um sechs Uhr anfangen zu arbeiten, haben sich hier ihr Frühstück abgeholt“, erzählt seine Frau. Beschäftigte der Ruhrtaler Gesenkschmiede zum Beispiel. „Die sind ganz besonders traurig, dass wir aufhören.“ Aber auch die Wittener Polizei deckte sich bei Erdelmanns mit belegten Brötchen ein. „Die standen heute nach der Nachtschicht als Erste vor der Tür.“

Mitarbeiterinnen verabschieden sich mit Fotobuch

Letzten Mittwoch hat sich das Verkäuferinnen-Team verabschiedet. „Ein komisches Gefühl“, sagt Mitarbeiterin Annette Lange (60). Als das Geschäft wie immer um 13 Uhr geschlossen wurde, haben sie ihr Geschenk überreicht. Auch Ehemalige waren dabei. „Da habe ich das erste Mal geheult“, gesteht Anja Erdelmann. Gerührt blättert sie in dem Fotobuch, das an so viele schöne Augenblicke erinnert.

Kann auch tolle Hochzeitstorten: Bäckermeister Bernd Erdelmann mit einer Kreation im März 2017.
Kann auch tolle Hochzeitstorten: Bäckermeister Bernd Erdelmann mit einer Kreation im März 2017. © FUNKE Foto Services | Jürgen Theobald (theo)

Dabei wird sie „ihre Mädels“ ja bald schon wiedersehen. Denn alle werden weiter für die Bäckerei Heidrich aus Essen arbeiten, die den Laden übernimmt. Vor sechs Wochen erst haben sie innerhalb einer Stunde alles klargemacht. Dabei hatten sie seit Anfang des Jahres einen Nachfolger gesucht und schon geglaubt, das es einfach so zu Ende gehen wird. „Das hätte wehgetan.“

Wittenerin leitet neue Bäckerei-Filiale in Herbede

Auch Anja Erdelmann selbst bleibt den Herbedern erhalten: Sie wird Filialleiterin. „Ich freue mich wie Bolle, dass ich mit 55 noch mal einen halben Neustart hinlege“, sagt sie. Auch wenn sich dann vieles ändern wird – die Wand links im Café-Bereich, die bleibt erhalten.

Das war Anja und Bernd Erdelmann ganz wichtig. Denn dort hängen alte Schätzchen aus dem Bäckereihandwerk: ein Lehrbrief des Urgroßvaters, eine alte Backofen- sowie eine Feuerungsklappe, alte Spekulatiusbretter, ein noch älteres Tortenmesser.

März 2016: Hier verziert Bernd Erdelmann gerade einen Osterzopf.
März 2016: Hier verziert Bernd Erdelmann gerade einen Osterzopf. © FUNKE Foto Services | Thomas Nitsche

Was es aber bald nicht mehr geben wird: die legendäre Leipziger Torte – eine Spezialität mit Nougatcreme und Nuss-Krokant-Böden, für die Kunden sogar aus Ibbenbüren nach Herbede gekommen sind. Auch die Flocken-Sahne mit Rum und Preiselbeeren und der von vielen heiß geliebte Käsekuchen – vorbei.

Flammende Herzen und Bienenstich

„Unsere Nische waren alte Sachen: Flammende Herzen, Rumberge, Nougatringe, Bienenstich“, sagt die gelernte Verkäuferin aus dem Osten, die nie was mit Bäckerei und Selbstständigkeit am Hut hatte. „Ich war ein DDR-Kind.“ Bis sie ihren Mann kennenlernte und nach Herbede kam, wo sie längst „fest verankert“ ist und auch bleiben wird.

„Viele denken ja, wir ziehen weg.“ Höchstens mit dem Wohnwagen gehen sie mal auf Tour. Oder fahren jetzt zwei Wochen in den Urlaub in ihre alte Heimat Mecklenburg. „Wir freuen uns auf die Entspannung.“ Gerne hätten sie weitergemacht. Schließlich haben sie auch die schwierige Zeit überwunden, als Backhaus ihnen in der Meesmannstraße Konkurrenz zu machen drohte.

Essener Bäckerei eröffnet neue Filiale im September

Die Bäckerei Heidrich aus Essen übernimmt Erdelmanns Backstübchen offiziell am 1. September. Nach einer umfassenden Renovierung soll die neue Filiale dann am 8. oder 9. September eröffnen.

Die Erdelmanns sind froh: „Heidrich ist auch ein altes Handwerksunternehmen, das schon viele Jahrzehnte existiert.“ Die Bäckerei betreibt viele Wochenmarktstände, mancher wird sie etwa aus Bochum kennen.

„Wir haben damals gekämpft und es geschafft. Auch die Pandemie haben wir gut überstanden. Aber jetzt reicht die Kraft nicht mehr.“ Bernd Erdelmann muss sich einer Augen-OP unterziehen. Die Hitze und der Staub in der Backstube – das wäre danach nicht gegangen.

„Freitagsmänner“: Haben uns bei Erdelmanns immer wohlgefühlt

Ein älterer Herr kommt herein, einer der „Freitagsmänner“, wie Anja Erdelmann die Truppe nennt, die sich regelmäßig im Café getroffen hat. „Wir haben uns hier immer wohlgefühlt“, sagt er und überreicht ein Bild und selbst getextete Zeilen. In Anja Erdelmanns Augen glitzert es schon wieder verdächtig.

Ach, sie wird auch die Cappuccino-Runde vermissen, die immer montags da war. Und die Frauen, für die sie zum Frühstück extra das alte Geschirr mit den Sammeltassen rausgeholt und den Tisch liebevoll gedeckt hat. Unter den Gästen macht sich an diesem Tag ebenfalls Wehmut breit.

Draußen nicht nur Kännchen: Anja und Bernd Erdelmann (stehend) mit Stammgästen: (v.li.) Axel Bollin, Margret Weiß und Hannelore Brocke.
Draußen nicht nur Kännchen: Anja und Bernd Erdelmann (stehend) mit Stammgästen: (v.li.) Axel Bollin, Margret Weiß und Hannelore Brocke. © FUNKE Foto Services | Barbara Zabka

Martina Ende-Bollin (67) sitzt mit Mann Axel (68) und Cousine Margret Weiß (69) draußen. Ein paar Mal in der Woche sei sie hergekommen, sagt Ende-Bollin, um Kirschstreusel, Puddingbrezeln oder den „weltbesten Kastenstuten“ zu genießen. „Das Backstübchen gehört zu meinen Orten, wo ich Leute treffe“, sagt Margret Weiß. „Wenn ich wo was trinken gehe, dann hier.“ In der Vergangenheit vom Café zu sprechen, fällt allen noch sichtlich schwer.

Ein Kastenstuten war es übrigens auch, den Bernd Erdelmann am Freitagfrüh als letztes Backwerk aus der Röhre geholt hat. „Junge, jetzt haste Ruhe“, hat er dann zu seinem Ofen gesagt – und dabei sicher auch ein Tränchen verdrückt.