Witten. Am Sonntag (8.5.) gingen die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ zu Ende. Das Live-Festival war so abwechslungsreich wie vor der Pandemie.
Als hätte es die Pandemie nie gegeben: Die 55. „Wittener Tage für neue Kammermusik“ präsentierten sich am Wochenende in der Ruhrstadt so reibungslos und abwechslungsreich wie in den Jahrzehnten vor der Pandemie. Die Tore des „Schwesternparks“, des Saalbaus und anderer Spielstätten in der Stadt öffneten sich wieder und das Publikum strömte mindestens so zahlreich wie in der Vergangenheit herbei.
Sogar alle vier Konzerte des Veranstaltungs-Marathons am Freitag, dem Eröffnungstag, waren ausverkauft oder zumindest sehr gut besucht. Und bei den fünf weiteren Veranstaltungen der folgenden Tage war es nicht anders. Als herausragendes Symbol der wiedergewonnenen Freiheit kann die Einbindung des „Schwesternparks“ am evangelischen Krankenhaus gesehen werden. Zwölf Künstlerinnen und Künstler belebten die Wiesen, Wasserflächen und Nischen des Parks mit Klanginstallationen oder nutzten sie für Events unterschiedlichster Art.
Künstliche Klänge verschmelzen mit einem Vogelgezwitscher
Die jeweils etwa zweistündigen „Zeitfenster“, in denen man den Park durchwandern durfte, waren recht knapp bemessen, wenn man alle Angebote wahrnehmen wollte. Was aber nicht sein musste. Schließlich sollten die Events zum Verweilen einladen und keinen Erlebnis-Stress auslösen. Grenzüberschreitungen von Musik, bildender Kunst und Bewegung bestimmen das Grundkonzept einer solch großflächig angelegten „Landschafts-Installation“, bei der künstliche Klänge mit natürlichem Vogelgezwitscher und Alltagsgeräuschen verschmelzen.
Entschleunigung gehörte zur Intention vieler Beiträge. Wenn etwa Peter Aiblinger mit einem Labyrinth die Besucher in einen „Warte-Modus“ versetzt oder Lilian Beidler lediglich ihre Stimme und ihren Körper als „installativen Stimmkörper“ verwendet. Wenn Dariya Maminova zu ihrem aus der Ferne klingenden Gesang sechs Instrumentalisten die Margeritenwiese in Zeitlupentempo durchschreiten lässt oder wenn sich in Mauro Hertigs „Mum Mum“ zwei Musikerpaare aus weiter Distanz Klänge zuwerfen.
Festival-Auftakt im Märkischen Museum in Witten mit fünf „Newcomern“
Der Auftakt des Festivals, das am Sonntagnachmittag (8.5.) mit einem Konzert des WDR-Sinfonieorchesters zu Ende ging, war im Märkischen Museum fünf „Newcomern“ vorbehalten. Die präsentierten in denkbar unterschiedlichen Stilarten Werke für Bläser, Streicher und Klavier. Ausgeführt von Nachwuchsmusikern der Akademie des renommierten „Ensembles Modern“.
Das hatte am Abend mit zwei aufwendigen Werken seinen großen Auftritt. Und zwar mit der filigran-komplexen, klanglich schillernden Auftragskomposition „Hopse“ des Altmeisters Georges Aperghis und der 40-minütigen Tanzkreation „Hard Boiled Variations“ des Heidelberger Komponisten Arnulf Herrmann, die fünf Mitglieder der Cocoondance-Compagnie mit minimalistischen Bewegungsstudien szenisch belebten.
Arditti-Quartett gehört zu den Stammgästen
Zu den Stammgästen des Festivals zählt das mittlerweile legendäre Arditti-Quartett, das gleich drei neue Streichquartette am Eröffnungsabend vorstellte. Mithatcan Öcal mit einem unterhaltsam originellen Beitrag, Nina Šenk mit einer meditativ in sich gekehrten Studie und der gebürtige Hagener Sven-Ingo Koch mit einem etwas zu lang geratenen Streifzug durch alle Spieltechniken, die sich mit einem Streichquartett bewerkstelligen lassen.
Der Trend zu klassischen Formationen wie dem Streichquartett hält an
Auf ein übergeordnetes Motto verzichtet der künstlerische Leiter Harry Vogt grundsätzlich. Entsprechend bunt präsentierte sich das Programm der insgesamt neun Veranstaltungen. Das betrifft auch die Besetzungen, die von Solo-Stücken bis zu Orchesterwerken reichten, von Solisten wie der Geigerin Carolin Widmann und Teodoro Anzellotti auf dem Akkordeon bis zum „Ensemble Modern“ und dem WDR- Sinfonieorchester. Vanessa Porter beeindruckte mit einem sensiblen Werk für Schlagzeug solo der im Iran geborenen und an der Folkwang-Universität ausgebildeten Komponistin Elnaz Seyedi.
Das nächste Festival findet im April 2023 statt
Auf 35 Uraufführungen konnten sich Freunde zeitgenössischer Musik am Wochenende bei den 55. „Wittener Tagen für neue Kammermusik“ freuen. Das Festival begann am Freitag (6.5.). Am Abend ab 20 Uhr gab es Konzerte im Wittener Saalbau.
Die Konzerte wurden am Freitag, Samstag und Sonntag live im Kulturradio WDR 3 übertragen. Die nächsten „Wittener Tage für neue Kammermusik“ sollen vom 21. bis zum 23. April 2023 stattfinden.
Der Trend zu klassischen Formationen wie dem Streichquartett hält an. Ebenso die immer stärkere Präsenz der Frauen. So wurde in diesem Jahr die serbische Komponistin Milica Djordjević als „Composer in Residence“ herausgestellt und das weiblich bestückte „Trio Catch“ setzte mit Werken für Klarinette, Violoncello und Klavier der Deutschen Sarah Nemtsov (42) und der Französin Betsy Jolas (95) nur zwei feminine Akzente unter vielen anderen. Der Neustart unter relativ normalen Bedingungen nach den Wirrungen der Pandemie ist geglückt.