Witten. Die evangelischen Gemeinden in Witten wollen vorbeugend gegen sexuellen Missbrauch vorgehen. Dafür soll sich der Blick auf Sexualität ändern.

Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und der Umgang damit haben bundesweit Wellen geschlagen. Aber was geschieht eigentlich ganz aktuell, auch vor Ort in den Gemeinden, ob katholisch oder evangelisch, um Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen? Die auch für Witten zuständigen evangelischen Kirchenkreise haben dafür jetzt zwei Beauftragte vorgestellt.

Den einen kennen die Wittener gut. Es ist Peter Unger, der 30 Jahre lang Gemeindepädagoge in der Martin-Luther-Gemeinde an der Ardeystraße war. Die andere ist Anja Kersting. Das Duo hat sich nicht weniger vorgenommen, als den Blick auf die menschliche Sexualität in der Kirche zu revolutionieren.

Kinder und Jugendliche besser vor sexualisierter Gewalt schützen: Anja Kersting und Peter Unger unterstützen und beraten die evangelischen Gemeinden in den Kirchenkreisen Hagen, Hattingen-Witten und Schwelm bei der Entwicklungen von Schutzkonzepten.
Kinder und Jugendliche besser vor sexualisierter Gewalt schützen: Anja Kersting und Peter Unger unterstützen und beraten die evangelischen Gemeinden in den Kirchenkreisen Hagen, Hattingen-Witten und Schwelm bei der Entwicklungen von Schutzkonzepten. © Harald Bertermann

„Wir wollen nicht nur den Umgang mit dem „worst case“ bearbeiten, sondern auch und vor allem präventiv tätig werden“, also vorbeugend, sagt Unger, vielen Wittenern vor allem als Organisator und Moderator der beliebten Gottesdienste Weihnachtsoase und Weihnachtsgalerie bekannt. Dazu gehöre auch, Sexualität als gute Gabe Gottes zu thematisieren.

Sexualität als wichtiger Teil der Schöpfung

„Sexualität ist ein wichtiger Teil der Schöpfung des Menschen als Ebenbild Gottes. Daher ist die Entwicklung der sexuellen Identität und Selbstbestimmung auch Aufgabe der Gemeinde- und Jugendarbeit“, sagt der 57-Jährige. Die Organe der Kirche sollten eine selbstbestimmte sexuelle Identität nicht nur schützen, sondern auch fördern. „Und das kann auch eine andere Identität sein als die heterosexuelle.“ Das sei schon länger Thema in der Kirche.

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Dennoch ist das, was die beiden da umsetzen wollen, eine Herausforderung. „Aber wir glauben, dass es nicht anders geht“, sagen Unger und Kersting. Und: „Für wirkliche Veränderung muss jetzt etwas passieren.“ Es sei nun auch die Zeit, einen Schritt nach vorne zu tun. Nicht zuletzt, weil die Menschen die beiden Konfessionen in einen Topf werfen würden – und damit auch die Diskussion um Missbrauch in der katholischen Kirche auf die evangelischen Gemeinden „abfärbe“.

Jede Gemeinde muss ihr eigenes Schutzkonzept entwickeln

Peter Unger und Anja Kersting, die zuvor als Lehrerin tätig war, sind nicht nur für die Wittener Gemeinden zuständig, sondern für die Evangelischen Kirchenkreise Hattingen-Witten, Hagen und Schwelm mit insgesamt 41 Gemeinden und rund 162.000 Gläubigen. Jede einzelne dieser Gemeinden soll in den kommenden Jahren ein eigenes Schutzkonzept entwickeln – mit den drei Bereichen Prävention, Intervention und Aufarbeitung. Die beiden Beauftragten begleiten und beraten sie dabei. „Aber jede Gemeinde muss sich selbst auf den Weg machen“, sagt Kersting.

Die Antennen ausfahren

Reichen die bisherigen Maßnahmen, um Missbrauch zu verhindern? „Wir können nur versuchen, es möglichst kompliziert zu machen“, sagt Diakon Thomas Becker. Deshalb sei das „Klima der Achtsamkeit“ wichtig, dass jeder die Antennen ausfahre. Becker: “Unsere Mitarbeiter sollen das Gefühl haben, dass wir alle hinschauen.“

In der Ev. Kirche von Westfalen ist am 1. März 2021 ein Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt in Kraft getreten. Es verpflichtet u.a. alle kirchlichen Körperschaften (Kirchengemeinden, Kirchenkreis, Verbände), Schutzkonzepte vor sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige und andere auch erwachsene Schutzbefohlene zu erstellen.

Einen Schritt weiter sind da bereits die katholischen Kirchen. Sie alle haben ein gemeinsames Grundkonzept, das auf Achtsamkeit beruht. Die Leitlinien haben die fünf NRW-Bistümer festgelegt – die Umsetzung liegt aber bei den Gemeinden vor Ort. Auch sie sollen oder haben sich je eigene Schutzkonzepte gegeben – so wie der Pastorale Raum Witten mit seinen sieben Gemeinden. Ein Teil davon: Mitarbeiter der Gemeinde, aber auch Ehrenamtliche, die Kontakt mit Kindern und Jugendlichen haben, müssen ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen, dass nicht älter als drei Monate ist – und natürlich keine einschlägigen Eintragungen enthält.

In der Pfarrei St. Peter und Paul mit Herbede als einziger Wittener Gemeinde, die dem Bistum Essen angehört, ist Diakon Thomas Becker seit 2016 Präventionsbeauftragter. Auch hier liegt bereits ein Schutzkonzept vor, das aber noch abschließend abgesegnet werden muss. „Kernstück ist unser Verhaltenskodex, den jeder Mitarbeiter unterschreiben muss“, sagt Becker. Zudem müssen neue Angestellte eine Schulung durchlaufen.