Witten. Die Katholiken in Witten-Herbede nehmen öffentlich zu Missständen in der Kirche Stellung. Sie sagen: „Wer schweigt, macht sich schuldig.“

Mit deutlichen Worten verurteilt der Gemeinderat der Kirchengemeinde St. Peter und Paul in Herbede Missstände in der katholischen Kirche. Mit einer öffentlichen Erklärung wendet er sich gegen Missbrauch von Kindern, steuerliche Finanztricks in den Bistumsverwaltungen und die Haltung Roms bei der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare.

Diese Stellungnahme sei jetzt dringend notwendig, sagt der Vorsitzende Michael Günzel. „Wer schweigt, macht sich schuldig!“ Das Gremium wolle damit klare Kante zeigen und klarmachen, für welche Werte es steht, so der 64-Jährige. Aus der Gemeinde habe es für diesen Vorstoß viel Zustimmung gegeben.

Haltung des Vatikans macht Wittener wütend und betroffen

Aber warum gerade jetzt? Der Tropfen, der das Fass für die Herbeder zum Überlaufen brachte, war Ende März die Weisung des Vatikans zur Segnung homosexueller Paare. „Eine Frechheit“, so Günzel. „Wenn der Papst sagt, ich solle den Schwulen und Lesben mit Achtung begegnen, dann muss ich auch ihrer Art zu leben mit Achtung begegnen“, erklärt Benno Jacobi, der Vize-Vorsitzende des Gemeinderats, energisch. Alles andere sei verlogen. Den 64-Jährigen, der sich schon vor langem als homosexuell geoutet hat, macht die Haltung der Amtskirche auch persönlich „wütend und betroffen“: „Was maßen die sich an?“

Ein Zeichen der Toleranz: An der Marienkirche in Witten weht immer noch eine Regenbogenfahne.
Ein Zeichen der Toleranz: An der Marienkirche in Witten weht immer noch eine Regenbogenfahne. © FUNKE Foto Services | Barbara Zabka

Alle katholische Gemeinden in Witten, die anders als Herbede zum Bistum Paderborn gehören, haben nach der Stellungnahme des Vatikans Regenbogenfahnen gehisst. Der Gemeinderat von St. Peter und Paul will seinen Protest weiter fassen und hat auch die Themen Kirchenfinanzen und Missbrauch mit aufgenommen. „Denn in all diesen Fragen wird die Kirche ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht, gibt es ein Versagen im System“, so Jacobi.

„Kirche hat zu lange die Täter geschützt“

Beim Thema Missbrauch in der Kirche und den Vertuschungsversuchen wünschen sich die Herbeder ein „viel restriktiveres Vorgehen“. Ausbleibende juristische Konsequenzen – etwa wegen der Verjährung der Taten – dürften kein Freibrief für die Kirche sein. „Sie hat zu lange die Täter geschützt“, so Jacobi. Jetzt müsse aktiv gegen die Missstände angegangen werden – straf- und kirchenrechtlich.

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Das Gleiche gelte für die Steuertricks in den Bistumsverwaltungen. „Wir brauchen mehr Transparenz. Aber die katholische Kirche will sich nicht in die Karten gucken lassen“, sagt Günzel. Sie rechne sich arm, klage über Kosten für Bauunterhaltung. „Dabei ist sie mit 8500 Quadratkilometern Besitz der größte Grundstückseigentümer in Deutschland.“ Das Vermögen, so der 64-jährige Ehrenamtliche, sei jedem gegönnt. „Aber dann muss er auch etwas daraus machen!“ Dabei gehe es um Gerechtigkeit.

Ältere Generation dürfe sich nicht wegducken

Mit seiner Erklärung – die nun auf verschiedenen Wegen, übrigens mit Genehmigung des Pfarrers, in der Gemeinde veröffentlicht wird – wolle der Gemeinderat ein Zeichen setzen. Sie solle nicht nur die Kirchenoberen zu einem Umdenken bewegen. „Es ist auch wichtig, dass junge Leute sehen, dass Ältere sich nicht wegducken, wenn sie mit etwas nicht einverstanden sind“, sagt Michael Günzel, der als Schulleiter der Holzkamp-Gesamtschule viel mit der Jugend zu tun hat.

Regenbogenflaggen wurden abgerissen

„Im Großen und Ganzen kann ich persönlich das alles unterstützen“, sagt Pfarrer Fritz Barkey, Leiter des Pastoralen Raums Witten, zum Vorstoß der Herbeder Gemeinde. Nur zum Thema Steuertricks könne er nichts sagen, der Fall betreffe wohl das Bistum Essen – nicht das Bistum Paderborn, zu dem die anderen Wittener Gemeinden gehören.

Beim Thema Missbrauch machten sich auch die Wittener stark, erklärt der Priester. Ein Schutzkonzept stehe kurz vor dem Abschluss. Auch für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare hatten sich die Wittener Gemeinden bereits ausgesprochen und vor ihren Kirchen Regenbogenflaggen gehisst. Allerdings: In Rüdinghausen, Stockum und St. Vinzenz wurden die abgerissen und geklaut, in St. Franziskus sogar abgefackelt.

Schließlich gehe es auch um die Zukunft der Kirche. Die vielen Austritte kämen ja nicht von ungefähr – und selbst ihnen als gläubige und aktive Katholiken gingen langsam die Gegenargumente aus, so die beiden Vorsitzenden. Nicht nur die passiven Mitglieder würden sich wegen der Missstände abwenden. „Viel schlimmer: Uns brechen gerade die Leute weg, die die Kirche eigentlich tragen“, sagt Benno Jacobi.

Wittener hoffen auf Wandel der Kirche von innen

Damit dieser Trend gestoppt wird, müsse sich in der Kirche etwas ändern. Sonst werde sie bald in der Gesellschaft keine Rolle mehr spielen – dieses düstere Bild zeichnen die Herbeder. Aber haben sie wirklich Hoffnung, dass sich die Kirche von innen heraus wandeln wird? Günzel zuckt zweifelnd mit den Schultern. „Zu 50 Prozent vielleicht.“ Dennoch wolle er den Glauben daran nicht ganz verlieren. Denn die Aufbruchsstimmung gebe es ja vielerorts in der Kirche. „Und wir reihen uns nun ein.“

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Die Stellungnahme aus Herbede könne ein Denkanstoß für andere Gemeinden sein, hoffen die beiden Vorsitzenden. Viele Katholiken aus den Nachbargemeinden hätten schon ihre Zustimmung bekundet. Günzel: „Aber sagen, aufschreiben und unterschreiben, das sind drei ganz verschiedene Dinge.“