Witten. Der Lärmschutzwall des neuen Amazon-Zentrums in Witten lässt Kleingärtner verzweifeln. Was sich für die Rüdinghauser seitdem verschlechtert hat.

Wehmütig denkt Friedhelm Schönekeß an die Zeit vor Amazon zurück. An die Zeit, als er von seiner Parzelle in der Kleingartensiedlung Mellmausland am Rande von Witten-Rüdinghausen aus einfach den Blick schweifen lassen konnte – über die Brache auf dem ehemaligen Siemensgelände. „Das war alles Acker, der Bauer hat hier Heu gemacht“, erinnert sich der 69-Jährige.

Heute prallt sein Blick nach wenigen Metern an einem enormen Erdwall ab, auf dem ein zusätzlicher Zaun thront – dem Lärmschutzwall, den Amazon am östlichen Ende seines neuen Verteilzentrums hat errichten lassen. Für einige der Kleingärtner vom Mellmausland eine Katastrophe.

„Es ist eine Zumutung, dass man uns hier so was vor die Nase setzt“, ärgert sich Sarah Broll. Ihr Garten liegt so wie der ihres Nachbarn Schönekeß in vorderster Linie zum Wall. „Vor fünf Jahren haben wir den Garten gekauft, uns so gefreut...Und jetzt das!“ Durch die Lärmschutzanlage komme nur noch kurze Zeit Sonne in ihre Parzelle. „Spätestens um halb drei ist sie weg“, so die 35-Jährige.

Kleingärtner-Urgestein aus Witten kommt jetzt nur noch selten

Nach 30 Jahren vermiest der Wall nun auch Friedrich Schönekeß das Kleingärtner-Dasein. Sonst sei er täglich und bis abends vor Ort gewesen. „Jetzt schaue ich zwischendurch mal nach, aber man bleibt nicht lange.“ Seine Frau habe schon gar keine Lust mehr mitzukommen. „Eigentlich wollten wir hier unser Rentenalter genießen.“ Sich nach einem neuen Garten umzusehen, kommt für den Senior jedoch nicht in Frage. „Ich kann in meinem Alter nicht noch mal von Null anfangen. Außerdem ist das doch mein Reich hier.“

Grüne Idylle: So sah es einmal hinter der Kleingartensiedlung Mellmausland aus. Hinter der Hecke beginnen die Parzellen.
Grüne Idylle: So sah es einmal hinter der Kleingartensiedlung Mellmausland aus. Hinter der Hecke beginnen die Parzellen. © Schönekeß

Schlimm sei für die Gärtner auch die Bauphase im letzten Jahr gewesen, als am Rande des Geländes der Erdwall aufgeschüttet wurde. „Wir hatten hier alles voller Staub und Kalk, nichts hat mehr geblüht“, erinnert sich Sarah Broll. Mit ihren beiden kleinen Kindern habe sie den Garten oft sehr schnell wieder verlassen, weil sie Staub in die Augen bekommen hätten. Fassungslos hätten sie beobachtet, wie der Wall immer höher und höher wurde. „Wir dachten, irgendwann muss ja auch mal Schluss sein. Aber es ging immer weiter.“

„Von der Höhe wurden wir alle überrascht“

„Von der Höhe sind wir alle überrascht worden“, sagt auch Andreas Schütrumpf, Vorsitzender des Kleingartenvereins. Zwar habe er an Baubesprechungen mit dem Investor Thelen teilgenommen und sei über die Planungen informiert worden. Dort sei zunächst nur von einer Schallschutzwand die Rede gewesen. Später kam die Information, dass ein Wall errichtet werden soll. Auch die genauen Ausmaße seien nicht klar gewesen.

Das Sortierzentrum von Amazon in Witten aus der Luft. Vorne im Bild ein Teil der Kleingartenanlage Mellmausland. Dazwischen der Lärmschutzwall.
Das Sortierzentrum von Amazon in Witten aus der Luft. Vorne im Bild ein Teil der Kleingartenanlage Mellmausland. Dazwischen der Lärmschutzwall. © www.blossey.eu | Hans Blossey

Am nördlichen Rand des Walls steht das Amazon-Parkhaus. Vermutlich soll die Mauer mit diesem auf gleicher Höhe abschließen, vermutet der Vereins-Vorsitzende. Sicher ist das aber nicht. Eine Anfrage bei Amazon, warum der Schallschutz so weit in die Höhe gehen muss, blieb bislang unbeantwortet. Auch die Stadt hat sich auf Nachfrage nicht geäußert.

Thelen-Gruppe hat an Kleingartenverein gespendet

Unproblematisch sieht Jürgen Schie, Vorsitzender des Bezirksverbands Witten der Kleingärtner, den Wall in Rüdinghausen. „Das entspricht alles den Bauplanungen.“ Und sei im Vorfeld mit der Bauleitung erörtert worden. „Eine Firma wie Amazon dient auch der Gemeinde, da muss man auch Kompromisse machen“, findet er. Zudem habe sich die Firma an alle umweltrechtlichen Bedingungen gehalten und sich immer sehr bemüht, etwa Flächen eingesprüht, um Staub zu vermeiden.

Bauarbeiten begannen Ende 2019

Ende 2019 begannen auf dem rund 100.000 m² großen Industriebaugrundstück die Arbeiten für das neue Amazon-Verteilzentrum. Zuvor hatte es der Grundstückseigentümer, die Thelen-Gruppe, jahrelang nicht vermarktet.

Gleich zu Beginn äußersten Tierschützer Bedenken, weil sich auf dem seit jahrzehntelang brachliegenden Gelände zahlreiche Amphibien wie Frösche und Molche angesiedelt hatten. Röhricht und drei Teiche sollten daher versetzt und zwischen dem neuen Lärmschutzwall und der Kleingartenanlage wiederhergestellt werden. Zu sehen ist davon bislang aber wenig.

Amazon hatte die Anlage Ende 2020 in Betrieb genommen, allerdings nur für das Weihnachtsgeschäft. Seit Mitte Januar pausiert es und wird bis Herbst 2021 umgebaut. In der Lagerhalle soll bis dahin die Transportinfrastruktur des künftigen Sortierzentrums aufgebaut werden. Dafür investiert der Konzern 75 Millionen Euro.

Die Thelen-Gruppe habe zudem auch an den Verein Mellmausland gespendet. Das bestätigt dessen Vorsitzender Andreas Schütrumpf. Das Geld soll wahrscheinlich in ein Gemeinschaftsgebäude für die Kleingärtner fließen.

Für Sarah Broll und Friedrich Schönekeß ist das nur ein schwacher Trost. Bei ihnen bleibt zudem die Ungewissheit, wie die angekündigte Begrünung der Mauer auf dem Wall aussehen wird. „Wenn da jetzt noch Bäume draufkommen, gebe ich auf“, so der 69-Jährige.

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