Witten. Die beiden Männer aus Witten sind trockene Alkoholiker. Hier erzählen sie von ihrem Weg in die Sucht – und wie sie es herausgeschafft haben.

Sie haben sich erst vor wenigen Monaten beim Treffen der Anonymen Alkoholiker in Witten kennengelernt. Der eine heißt Hans, ist 78 Jahre alt und seit 36 Jahren trocken. Der andere heißt Ulrich, ist 62 und hat seit August 2020 keinen Alkohol mehr angerührt. Die Gründe für ihre Sucht sind so verschieden wie die beiden Männer selbst. Hier erzählen sie ihre Geschichte. Denn, so befürchten sie, gerade in der Pandemie steige der Alkoholkonsum in vielen Familien drastisch an.

„Mein Name ist Hans und ich bin Alkoholiker.“ So stellt sich der Ältere vor. Es ist, das sei nur nebenbei bemerkt, sein richtiger Vorname. Er stehe zu seinem Problem, das begann, als es ihm eigentlich so richtig gut ging.

Hans wurde in Magdeburg geboren und kam 1949 mit den Eltern in den Westen. Er machte eine Lehre in einer Bochumer Maschinenfabrik. Dass da nach Feierabend mal ein Bierchen gezischt wurde – harmlos. „Es waren nur kleine Mengen. Ich hatte ja auch nicht viel Geld.“

Hans aus Witten: Mit dem höheren Lebensstandard kam das Trinken

1969 lernte Hans seine zukünftige Frau kennen und zog mit ihr nach Witten. Er wechselte den Job, wurde Außendienstmitarbeiter. Verkaufte zunächst Schleifmittel, später chirurgische Instrumente und Implantate. „Mit dem höheren Lebensstandard kam das Trinken.“ Er war viel unterwegs. Allein in einer fremden Stadt, landete er abends regelmäßig in Kneipen, Bars und teuren Restaurants. „Das süße Leben“, nennt er es rückblickend.

Doch von Mal zu Mal habe er mehr getrunken, „bis ich ohne Alkohol nicht mehr lebensfähig war“. Ein Kasten Bier und eine Flasche Schnaps – das war seine Tagesration. Hans verlor den Führerschein, kam irgendwann mit der Arbeit so ins Schleudern, dass es auffiel, und flog raus. Das war Anfang der 80er Jahre.

Seiner Frau war der übermäßige Alkoholkonsum längst ein Dorn im Auge. Hans versuchte aufzuhören – und geriet ins Delir, einen Zustand lebensgefährlicher Verwirrung. „Ich bin dem Tod so eben von der Schippe gesprungen.“ Seine Frau setzte ihm die Pistole auf die Brust und drohte mit Scheidung.

Der Wittener traute sich zunächst nicht zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker

Noch im Krankenhaus bekam er Besuch von einer Vertreterin der Anonymen Alkoholiker (AA), die ihn einlud, ein Treffen zu besuchen. Mehrere Nächte lang dachte Hans darüber nach – und entschied: „Du musst das machen, sonst ist alles weg.“ Trotzdem traute er sich zunächst nicht hin, bis die Vernunft siegte. Statt des Häufchens Elend, das er dort erwartet hatte, traf Hans „tolle Menschen“.

Er hörte von einem Tag auf den anderen mit dem Trinken auf, verbrachte ein halbes Jahr in einer Suchtklinik, „ich war ja total kaputt“. Danach fand er einen neuen Job als Lagerarbeiter. „Blaumann statt Nadelstreifen.“ Er konnte es sich leisten, denn seine Frau verdiente gut. Und Hans ging regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker.

Beim ersten alkoholfreien Silvester im Saalbau in Witten mit Cola angestoßen

„Gespräche helfen enorm, wenn man gewillt ist, was gegen die Sucht zu tun“, sagt der 78-Jähriger, der schon so lange trocken ist. Doch ehrlich müsse man sein, das betont auch der 16 Jahre jüngere Ulrich immer wieder. Und Gefahren rechtzeitig erkennen. Denn überall lauert das kleine Schlückchen, das man doch mal eben mittrinken kann. Auch Pralinen sind tabu. „Ich habe mal aus Versehen eine Weinbrandbohne gegessen“, gesteht Hans. Beim ersten Silvester ohne Alkohol hat er im Saalbau mit Cola angestoßen. Es gebe Alkoholiker, die würden nicht mal Wasser aus Gläsern mit Bierreklame trinken.

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„Wenn jemand regelmäßig jeden Abend zwei Flaschen Bier trinkt, halte ich das für gefährlich“, sagt Ulrich heute. Er hat früher mit Kumpels viel Party gemacht – alles im Rahmen. Doch dann kam das Verlangen. „Da wusste ich, dass ich Alkoholiker bin.“ Er hat heimlich getrunken, vor allem, wenn es ihm nicht gut ging. Der heute 62-Jährige hatte Depressionen, fühlte sich beruflich und familiär überlastet. Zwei bis drei Flaschen Wein pro Tag kippte er da runter. „Um zu vergessen.“

„Ich habe zwei Tage gesoffen. Und mich hinterher geschämt.“

Ende 2018 hörte Ulrich auf und glaubte schon, es geschafft zu haben. Doch dann warf ihn wieder etwas aus der Bahn. „Ich habe zwei Tage gesoffen. Und mich hinterher geschämt.“ Immer wieder googelte er die Anonymen Alkoholiker – und ging doch nicht hin. Endlich, im August 2020, kriegte er die Kurve. „Der erste Abend dort war wunderbar. Man muss keine Angst davor haben.“ Ulrich fühlt sich wohl bei den Treffen, bei denen jeder sprechen darf, ohne unterbrochen zu werden. Bei denen jeder aber auch mal harte Kritik einstecken muss.

„Wenn Hans was sagt, dann nehme ich das ernst“, betont Ulrich. Hans seinerseits hat in einer Schublade ein schwarzes Büchlein liegen. „Das ist meine Lebensversicherung“, sagt er. Darin stehen etliche Telefonnummern seiner AA-Freunde, die er anrufen kann, wenn er reden will. Das Büchlein, es ist sehr abgegriffen.

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