Witten. Große Sorgen machen sich Wittener Beratungsstellen um Kinder, Jugendliche und Frauen: Denn die häusliche Gewalt nimmt in der Krise zu.
Je enger Familien aufeinanderhocken, desto mehr wächst die Gefahr, dass eine Situation eskaliert. Große Sorgen um von Gewalt bedrohte Kinder und Jugendliche macht sich Markus Guhl, Leiter der Beratungsstelle von Pro Familia in Annen. Denn Schulen, Kitas, Sportvereine, Jugendheime - also alle Orte, an denen sonst Spuren von Misshandlungen entdeckt werden könnten - haben geschlossen.
"In der jetzigen Situation erhöht sich die Hilflosigkeit des Opfers, das nicht unbemerkt anrufen kann, weil ständig jemand zuhause ist", so Guhl. Und: Entdecken Eltern doch entsprechende Hilferufe, weil sie etwa Handys kontrollieren, dann würden die Kinder noch schlimmere Folgen fürchten. Deshalb begrüßt Guhl die Kampagne des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung "Kein Kind alleine lassen", die gerade gestartet ist.
Wittener können Flyer mit Notrufnummern ausdrucken und aushängen
Auf der Website der Aktion finden Menschen Flyer, die sie ausdrucken und im Hausflur oder im Schaufenster aushängen können. Darauf stehen die wichtigsten Notrufnummern sowie Tipps für Kinder und Jugendliche, was sie tun können, wenn sie in Gefahr sind, und wo sie jemanden erreichen, der ihnen hilft. Markus Guhl ist selbst gerade dabei, solche Flyer in Witten aufzuhängen, "überall da, wo noch Menschen sind", also etwa in Supermärkten.
Guhl und sein Team haben auch jetzt durchaus Kontakt zu Familien, die ohnehin schon in der Beratung sind - per E-Mail oder Telefon. "Manchmal rufen Paare an, die sagen, ihnen falle die Decke auf den Kopf und sie würden sich anschreien. Oder überforderte und gestresste Eltern, die langsam einen Budenkoller kriegen." Doch für alle anderen sei auch die Hemmschwelle zu groß, überhaupt zum Hörer zu greifen.
Beratungsstelle: Wenn die Schulen öffnen, nehmen die Probleme zu
Um mehr Vertrauen aufbauen zu können, plant die Beratungsstelle alternative Kontaktformen, etwa per Videotelefonat. Denn sobald die Schulen wieder öffnen, rechnet Guhl erfahrungsgemäß mit noch mehr Problemen. Bis dahin ist sein Tipp: sich Auszeiten gönnen und, wenn möglich, mal alleine sein. "Aber", so Markus Guhl, "das sagt sich immer so leicht".
Auch Marion Steffens, Leiterin des Frauenhauses EN, bestätigt, was Experten schon zu Beginn des Kontaktverbots befürchteten: "Häusliche Konflikte nehmen in Corona-Zeiten zu." Deutlich gestiegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sei jetzt schon die Zahl der Beratungen von Frauen, deren Männer nach einem Polizeieinsatz die gemeinsame Wohnung für zehn Tage verlassen müssen.
"Für die Frauen ist es in diesen Zeiten der Isolation schwierig, Hilfe zu holen"
Genaue Zahlen zu den tatsächlichen Fällen häuslicher Gewalt habe sie gerade nicht parat. Doch eines weiß Steffens genau: "Die Dunkelziffer liegt noch höher." Denn wenn nicht zufällig Nachbarn bei der Polizei Alarm schlagen, weil sie in der Wohnung nebenan Geschrei hören, dann sei es für Opfer schwierig, Hilfe zu holen.
Familien seien während der Kontaktsperre sehr isoliert. Steffens erklärt: Eine Frau, die sich bedroht fühlt, stehe in dieser Situation noch mehr unter der Kontrolle ihres Mannes - vor allem, wenn dieser sich im Homeoffice befinde. Sie habe keine Möglichkeit, ungestört zu telefonieren, sich einer Freundin anzuvertrauen, wisse nicht, wohin sie fliehen könnte.
Das Frauenhaus im Ennepe-Ruhr-Kreis ist geöffnet und bietet Schutz
"Viele denken auch, dass das Frauenhaus - wie so viele andere soziale Einrichtungen - jetzt geschlossen ist", so dessen Leiterin. "Doch wir nehmen auf - wenn wir Platz haben." Am Mittwoch (15.4.) war das Frauenhaus, in dem es 25 Plätze gibt, voll belegt. "Aber das ändert sich täglich."
Ihre Botschaft an die Frauen: "Schweigt nicht. Es gibt Schutz und Hilfe." Auch Männer könnten sich übrigens an die Beratungsstelle in der Augustastraße wenden, die ein Projekt des Vereins "Frauen helfen Frauen" ist, der auch das Frauenhaus unterhält. "Wir bieten Männern Tipps, wenn sie merken, dass ihnen in der Familie bald der Kragen platzt, sie aber eigentlich nicht gewalttätig werden wollen."
>>> Info:
Wer selbst von häuslicher Gewalt betroffen ist, kann sich an folgende Nummern wenden: Frauenberatung EN: 02302 / 52596 (Mo bis Do 9 - 16 Uhr, Fr 9 -14 Uhr); Frauenhaus EN: 02339 / 6292 (rund um die Uhr); Weißer Ring: 0151/ 55164777. Kontaktaufnahme ist auch per Mail möglich: info@frauenberatung-en.de. Unter 02336 - 475 90 94 können sich Männer beraten lassen.
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, und sein Team haben die Website
www.kein-kind-alleine-lassen.de gestartet. Auf der Seite gibt es neben Infos und weiteren Weblinks auch Flyer und Plakate zum Ausdrucken und Aufhängen.
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