Witten. Mit Sorge schaut die Frauenberatung EN auf die Coronakrise. Sie fürchtet drastisch mehr Gewalt gegen Frauen - bis hin zu mehr Tötungsdelikten.
In der Corona-Krise verbringen wir immer mehr Zeit zu Hause, gehen nur noch selten vor die Tür. Unsere sozialen Kontakt haben wir auf das absolute Minimum heruntergefahren, sehen fast nur noch die Familie oder den Partner. Die Frauenberatung EN fürchtet deshalb einen deutlichen Anstieg der Gewalt gegen Frauen. Mit deren Leiterin Andrea Stolte (57) sprach Stephanie Heske darüber, was die Krise für betroffene Frauen bedeutet.
Was machen die aktuellen Einschränkungen mit den Menschen, vor allem mit Paaren?
Ganz allgemein führen Krisensituationen wie diese zu emotionalem Stress. Wir haben weniger Freiheiten, viele haben akute finanzielle Sorgen. Die aktuelle Lage macht uns alle angespannt. In Paarbeziehungen, die ohnehin schon konfliktreich sind, sorgt das für neuen Zündstoff.
Wie genau?
Wenn Paare, die sonst den Alltag getrennt voneinander verbringen, jetzt viel mehr Zeit zusammen sind, dann steigt die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation - bis hin zu körperlicher Gewalt. Und die geht in erster Linie von Männern aus. Auch Kinder sind in solchen Fällen in großer Gefahr. Auch eine Beziehung, die sonst nicht gewalttätig ist, wird jetzt vor ganz besondere Herausforderungen gestellt. Manche werden daran wachsen, andere nicht. Auch in bislang konfliktfreien Beziehungen gibt es jetzt ein erhöhtes Risiko für Gewalt unter den Partnern.
Und was macht das mit Beziehungen, in denen Gewalt ohnehin an der Tagesordnung ist?
Dort ist die Lage natürlich um einiges schwieriger. Wenn man nun kaum noch Möglichkeiten hat, dem anderen auszuweichen, gezwungen ist, aufeinander zu hocken, dann steigt das Gewaltpotenzial. Gewalt gegen Frauen ist auch in Deutschland immer ein ganz ganz großes Thema. Das fällt jetzt mit der Corona-Krise und ihren Auswirkungen zusammen.
Womit rechnen sie?
Ich gehe davon aus, dass häusliche Gewalt ansteigen wird. Das zeigt auch die Erfahrung aus anderen Ländern. Laut einer Pekinger Frauenrechtsorganisation haben sich in der Zeit der Quarantäne dreimal so viele Frauen wegen häuslicher Gewalt an sie gewandt, wie zuvor. Das halte ich auch in Deutschland für realistisch. Auch die Zahl der Femizide, der Tötungsdelikte an Frauen, könnte steigen.
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Was bedeutet die Krise für die betroffenen Frauen?
Es wird für die Frauen nun unfassbar schwer, sich Unterstützung von außen zu holen. Denn es fehlt das erweiterte soziale Umfeld. Das können andere Mütter auf dem Spielplatz sein oder die Kita-Erzieherin des Kindes, die merkt, dass etwas nicht stimmt und Unterstützung anbietet. Darum ist es jetzt umso wichtiger, dass wir alle aufeinander achten, besonders unter Nachbarn. Es sind schwere Zeiten. Zivilcourage ist gefragt.
Verzeichnen Sie denn schon mehr Anrufe bei der Frauenberatung als sonst?
Ja, die Zahl steigt. Aber wir stehen erst am Anfang. Darum haben wir unsere Sprechzeiten bereits ausgeweitet. Hinzu kommt: Für die Frauen ist es jetzt deutlich schwerer, Kontakt zu uns aufzunehmen, ohne dass der Partner das mitbekommt. Gleichzeitig erreichen uns aber auch mehr Anrufe von Männern, die sagen „Mir steigt der Pegel“. Auch hier bieten wir Unterstützung an.
Was können Sie in der jetzigen Situation Frauen mit gewalttätigen Partnern raten?
Mir ist es wichtig zu vermitteln, dass auch jetzt Hilfe möglich ist. Wir ermutigen betroffene Frauen ausdrücklich, Kontakt zu uns aufzunehmen. Ich habe den Eindruck, dass viele Frauen in den eigenen vier Wänden bleiben und ausharren. Aber Betroffene sollten zumindest mit jemandem sprechen. Allein das kann manchmal schon hilfreich sein. Der Weg ins Frauenhaus ist immer schwer. Und wegen des Kontaktverbots ist der Weg zu einer Freundin nun auch eigentlich unmöglich.
Das Frauenhaus ist aber ohnehin fast immer voll.
Das stimmt. Deshalb prüfen wir gerade, ob wir zum Beispiel Appartements anmieten könnten, um dort Frauen unterzubringen – auch für den Fall, dass das Frauenhaus unter Quarantäne gestellt werden sollte. Auch damit müssen wir derzeit immer rechnen.
>>>Info:
Wer selbst von häuslicher Gewalt betroffen ist, kann sich an folgende Nummern wenden: Frauenberatung EN: 02302 / 52596 (Mo bis Do 9 - 16 Uhr, Fr 9 -14 Uhr); Frauenhaus EN: 02339 / 6292 (rund um die Uhr); Weißer Ring: 0151/ 55164777. Kontaktaufnahme ist auch per Mail möglich an: info@frauenberatung-en.de. Unter der 02336 - 475 90 94 können sich Männer beraten lassen.
Im Frauenhaus des EN-Kreises leben derzeit 13 Frauen und 18 Kinder. 2019 wurden dort insgesamt 68 Frauen aufgenommen. 87 mussten wegen Überbelegung abgelehnt werden.
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