Witten. Ohne sein Witten kann er nicht. Bernd (55) ist obdachlos und gehört mittlerweile zum Stadtbild. Mit einem normalen Leben hat er abgeschlossen.

Von Kälte will Bernd nichts wissen. „Das ist doch heute nicht kalt, lächerlich. Wir haben hier doch gar keinen Winter“, sagt der 55-Jährige. Raureif bedeckt morgens längst die Dächer, trotzdem sitzt Bernd tagein, tagaus auf einer Mauer an der Berliner Straße. Er ist einer der wenigen, die in Witten „Platte machen“, also auf der Straße leben. Nein, vor dem Winter hat er keine Angst. Dabei warnen die Obdachloseninitiativen in Deutschland längst wieder vor Kältetoten.

Bernd ist stadtbekannt. Er war mal eine ganze Zeit weg. Dann war er plötzlich wieder da. Manche Passanten grüßen ihn, andere gucken bewusst woanders hin, einige bleiben stehen, werfen etwas in den kleinen braunen Plastikbecher oder reden kurz mit ihm. Bernd trägt eine dunkle Wollmütze und schwarze Handschuhe zur grauen Jeans, den blauen Schal hat er mehrfach um den Hals gewickelt, die dicken blauen Socken stecken in hellbraunen Schuhen – nein, kalt, sei ihm nicht, sagt er, obwohl er sich stundenlang nicht zu bewegen scheint. Den Jack-Wolfskin-Anorak hat er eigentlich nur an, damit ihn keiner klaut. Wäre da nicht der ungepflegte graue Zottelbart, Bernd wäre fast eine modische Erscheinung.

„Ich brauche mein Witten, ich brauche meine Mauer hier“

Hier ziehen Bernd keine zehn Pferde hin: Die Obdachlosenunterkunft am Mühlengraben in Witten hat selbst unter den Wohnungslosen keinen guten Ruf.
Hier ziehen Bernd keine zehn Pferde hin: Die Obdachlosenunterkunft am Mühlengraben in Witten hat selbst unter den Wohnungslosen keinen guten Ruf. © Barbara Zabka / FUNKE Foto Services

Seit vier Jahren lebt er draußen, ob Sommer oder Winter, ins Obdachlosenheim will er nicht. Jedenfalls nicht zum Mühlengraben. Der Drewermannstift in Gevelsberg, das sei was ganz anderes. „Ein Fünf-Sterne-Hotel“, schwärmt Bernd. Aber irgendwann wollte er wieder zurück. „Ich brauche mein Witten, ich brauche meine Mauer hier.“

Hier, das ist die Ecke Poststraße/Berliner Straße, wo täglich hunderte Passanten vorbeieilen, auf dem Weg vom oder zum Bahnhof. Viele kennen ihn, eine Frau bringt ihm gerade einen Schinkenbrötchen und einen Kaffee. In Bernds Becher landen nicht nur Münzen, sondern auch der ein oder andere Schein. Bernd wird eigentlich gut versorgt. Eine Anwohnerin kocht manchmal sogar für ihn. „Hühnerbrühe, Spaghetti Carbonara“, sagt sie. „Und weißte noch, die kleinen Salamis?“ Ja, die waren gut, sagt Bernd.

Bernd ist zu stolz, um zum Sozialamt in Witten zu gehen

Der gebürtige Wittener ist keiner, der bemitleidet werden will. Warum auch? Sein Schicksal sei selbst gewählt. Bernd ist zu stolz, um zum Amt zu gehen und dort nach einer Wohnung zu fragen. Warum er auf der Straße lebt? Darüber will er nicht sprechen. Dann tut er es doch, aber erst, als der Reporter den Block weglegt. Bernd weint, als er vom „Bruch“ in seinem Leben erzählt. Da wird der harte Hund auf einmal ganz weich. Bernd, der früher geboxt hat, der mehrere Autos hatte, der einmal Frau und Kinder hatte, Geld, Arbeit, der zur See gefahren ist, der sich von keinem rumschubsen ließ – und auch heute noch ziemlich selbstbewusst wirkt.

Ob er sich jetzt, so kurz vor Weihnachten, nicht wieder nach einem warmen Zuhause, einer Familie, eigenen vier Wänden sehnt? Nein, sagt Bernd, „irgendwann schließt du damit ab und brauchst es nicht mehr“. „Hey Schätzchen“, sagt er zu einer vorbeieilenden jungen Frau, die ihn kennt und offenbar nichts dabei findet. Ein junger Mann hat einen süßen, elf Wochen alten Dalmatiner mit blauer Weste an der Leine. „Och Fiffi, komm’ mal her“, ruft Bernd. „Mich begrüßt hier jeder, selbst die Hunde.“

„Auf dem Kriegerdenkmal am Karl-Marx-Platz haben wir Fangen gespielt“

Es ist morgens gegen zehn, Bernd trinkt eine Cola und riecht nach Alkohol, Kaffee will er nicht. „Magen verdorben““, sagt er. Wie seine Kindheit war? „Mein Vater war streng, aber gerecht“, erinnert er sich an die frühen Jahre in der Mozartstraße. Er zieht eine Marlboro aus der Packung und erzählt. „Auf dem Kriegerdenkmal unten am Karl-Marx-Platz haben wir Fangen gespielt. Wer zuerst oben war, hatte gewonnen.“

Bernd sitzt auf einer Decke, dem Reporter bietet er ein Polster als Unterlage an. Bernd ist vielleicht nicht der geselligste Typ, Aber man kommt schnell mit ihm ins Gespräch. Seine letzte Wohnung am Crengeldanz verließ er Knall auf Fall nach einem Streit mit dem Vermieter. Alles, was er zum Leben braucht, hat er in einem rosa Einkaufstrolley verstaut, der neben ihm steht, davor zwei weiße Plastiktaschen mit leeren Cola- und Wasserflaschen. Die Nächte verbringt Bernd an einem – sagen wir mal vorsichtig – wärmeren Platz in der Nähe. Manchmal geht er auch einen Kaffee im Bahnhof trinken.

Bernd, der Obdachlose, gehört längst zum Wittener Stadtbild

Der einstige Schlosser und Kfz-Mechaniker gehört längst zum Stadtbild. Gegenüber am Berliner Kiosk hat er sogar Kredit. Dass um ihn herum überall schon die Lichter brennen, stört ihn nicht. „Ich halte gar nichts von Weihnachten“, sagt Bernd. „So kennen mich die Leute, direkt und ehrlich.“ Nein, Bernd ist kein Diplomat. Er sagt, was er denkt. Und wenn ihm einer dumm kommt, lernt er Bernd kennen. Aber selbst die Polizei begrüßt ihn mittlerweile per Handschlag. Einmal, als es richtig kalt war im Frühjahr, habe man ihn sogar verhaftet. Bernd lacht. „Die Zelle hier in Witten war richtig schön warm.“

Der Reporter bekommt allmählich kalte Füße, Bernd steckt sich noch eine Zigarette an. Nein, fotografieren lassen will er sich nicht, obwohl er sogar schon im Fernsehen war. Eine Frau kommt vorbei und greift ins Portmonee. Bernd steckt den Fünfer gleich ein. Er kann’s offenbar mit den Frauen. Neulich, da kam er mit einer ins Gespräch, die ihm gefallen hat. War aber verheiratet. Sonst, sagt Bernd, und lässt den Rest des Satzes offen. Für sie hätte er sein Mäuerchen vielleicht doch noch einmal verlassen.