Witten. Die Toiletten verdreckt, kein warmes Wasser: Eine Wittener Obdachlosenunterkunft verkommt. Die Bewohner sind auf dem Wohnungsmarkt chancenlos.
Zwei Mitarbeiter bei der Stadt sind zuständig für die Unterbringung von Menschen in Notlagen. Das waren zum Jahresende: 1023 Flüchtlinge, aber auch 24 Obdachlose. Deren Unterkunft an der Stadtgrenze zu Bommern befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Seit es so viele Flüchtlinge in Witten gebe, „sind die Wohnungslosen bei uns eher eine Randnotiz“ so Mitarbeiter Christoph Noelle.
Wer in dem Doppelhaus landet, das die Stadt als dauerhafte Obdachlosenunterkunft betreibt, hat vermutlich nicht mehr viele Perspektiven. Dem sichert die Bleibe lediglich das Dach über dem Kopf. „Die, die wir zur Zeit dort haben, die bleiben wahrscheinlich bis zu ihrem Tod. Viele sind auf dem freien Wohnungsmarkt praktisch unvermittelbar“, schätzt Christoph Noelle die Lage ein.
Drogenabhängigkeit und psychische Auffälligkeiten
Viele seien aufgrund persönlicher Bürden, wie Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Krankheiten, psychischen Auffälligkeiten oder Schwierigkeiten im Umgang mit Geld, praktisch nicht mehr vermittelbar. „Das ist der Bodensatz der Gesellschaft“, sagt er, „deren letzte Adresse bei uns ist“.
Zur Zeit leben in den Häusern 24 Menschen auf zehn Wohnungen und wenige Einzelzimmer verteilt. .„Manche Leute urinieren in den Flur oder erleichtern sich sonstwie“, erzählt Marco (44), der seit Juli 2015 in der Unterkunft lebt. „Und es wird unheimlich viel geklaut. Ich habe keine Tür, die sich abschließen lässt.“ Andreas (38) landete hier vor drei Monaten, nachdem er zuvor seinen Job und seine Wohnung verloren hatte: „Ich kann wegen denen über mir nicht schlafen. Da gibt’s jede Nacht Türenknallen und Schreiereien.“
Wie sich die WAZ vor Ort überzeugen konnte, sind die sanitären Einrichtungen komplett verdreckt, in den einzelnen Stockwerken gibt es kein warmes Wasser. Zwei Duschen stehen für alle Bewohner zur Verfügung. Im Außenbereich liegt eine herausgerissene Toilette hinter dem Maschendrahtzaun, frische Blutstropfen säumen die Platten im Eingangsbereich.
Konzept der Unterkunft ist, dass die Menschen dort auf sich allein gestellt leben. Dafür müssen sie ihren Wohnraum selbstständig sauber halten, für ihre Verpflegung sorgen und vor allem untereinander zurecht kommen. Alle paar Wochen schaut ein Sozialarbeiter vorbei. Michael Raddatz betreut seit 2007 die Bewohner der städtischen Unterkünfte. „Ich sehe mich als Brückenbauer zu den Hilfseinrichtungen“, sagt er. „Aber alles steht und fällt mit der Motivation der Bewohner.“ Der Stadt sind die Missstände in der Unterkunft bewusst. Aber vielen Menschen, die in eine solche Lage gekommen seien, fielen die einfachsten Aufgaben schwer, oft käme es zu Streit.
„Man versucht natürlich, jedem gerecht zu werden“, sagt Sozialarbeiter Raddatz. „Aber durch den Anstieg der Flüchtlinge ist das nicht mehr möglich.“ Das mache sich zunehmend auf dem Wohnungsmarkt bemerkbar – es fehlt massiv an Wohnungen für sein Klientel.
Hilfe für die Ärmsten der Armen
Seit gut zwei Monaten gibt es in Witten eine Gruppe Ehrenamtlicher, die sich um die Obdachlosen kümmert. Unter anderem haben sie in der Unterkunft geputzt und Müll ententsorgt
Es ist Montagabend. Vor dem Hauptbahnhof sammelt sich gut ein halbes Dutzend Leute. Sie sind gekommen, um Menschen zu helfen, die sonst oft vergessen werden: den Obdachlosen. „Heute haben wir vor, den Menschen in der Unterkunft unten an der Ruhr warme Suppe zu bringen“, erzählt Stefanie Neto Mendoca, Mitinitiatorin der Wittener Gruppe.
Mit ihrer Initiative „Steffi-Hilft“ kümmert sie sich seit Jahren um schutzbedürftige Tiere, seit einiger Zeit auch um Menschen. Im November hatte sie Kontakt zu dem Obdachlosen-Verein „Unsichtbar“ aufgenommen, einem Verein, der sich im gesamten Ennepe-Ruhr-Kreis um die Menschen am Rand der Gesellschaft kümmert. Daraufhin formierte sich eine Gruppe um die beiden Initiativen. An jedem Montag trifft sie sich; unter anderem, um auf Stadtsparziergängen Obdachlosen Decken, warme Kleidung, Getränke oder Hundefutter zu bringen. „Wir treffen regelmäßig so vier bis fünf Obdachlose, die wir versorgen“, berichtet Lucas König, erster Vorsitzender von „Unsichtbar“, der auch in anderen Städten mit dem Rucksack Runden dreht.
Schutzmasken und Gummihandschuhe
„Ist Not am Mann, sind wir da", ergänzt Stefanie Neto Mendoca. Über die montägliche Runde hinaus nahmen sich die Ehrenamtlichen seit einigen Wochen der dauerhaften Obdachlosenunterkunft an der Ruhr an. Neto Mendoca und Melanie Ernst, eine weitere Helferin, hatten sich Schutzmasken und Gummihandschuhe aufgesetzt und in einigen Räumen in der Unterkunft radikal Müll entsorgt und geputzt. Außerdem riefen sie über Facebook zu Möbel- , Kleider- und Bettwäschespenden auf. „Da herrschen teilweise unmenschliche Zustände“, sagt Neto Mendoca. „Ein Bewohner zum Beispiel schlief seit einem halben Jahr in der gleichen Bettwäsche. Schade, dass die Stadt sagt, nach mir die Sintflut.“
Auch weitere Mitarbeiter des ennepe-ruhr-weiten Obdachlosen-Vereins „Unsichtbar“ sind in der Stadt aktiv. „Wir fahren mit unserem Kältemobil durch alle Städte. Etwa zweimal pro Woche kommen wir mit unserer mobilen Suppenküche auch nach Witten“, berichtet Holger Brandenburg, zweiter Vorstand von Unsichtbar. „Diese Menschen, denen wir helfen, haben nichts mehr zu verlieren, Sie sind die Ärmsten der Armen, aus ganz unterschiedlichen Gründen heraus. Manchmal sind sogar gescheiterte Akademiker dabei oder Menschen mit Burnout. Wenn man aber obdachlos wird, geht es nicht mehr weiter nach unten .“
Für die Obdachlosenunterkunft haben die Ehrenamtlichen in den kommenden Wochen viel vor: Weitere Möbel, die Versorgung einer Schwangeren, Ersatz für eine kaputte Waschmaschine. Die Hilfe kommt bereits an:„Anfangs war das eine Riesenkatastrophe hier, jetzt mit den neuen Möbeln und dem neuen Kühlschrank, den Steffi gebracht hat, ist es schon viel besser“, sagt Bewohner Marco, der seit einem halben Jahr hier lebt.