Bochum. Nur Psychologie, das fand der Kurs einer Schule in Bochum langweilig, er wollte Mord oder Totschlag. Nun ist „True Crime“ dort Unterrichtsfach.
„Der Amoklauf ereignete sich am Vormittag des 14. Dezember 2012 im US-Bundesstaat Connecticut. Es starben insgesamt 28 Menschen, darunter 20 Kinder, sechs Angestellte der Grundschule sowie die Mutter des Täters.“ Auf der digitalen Tafel in einem Kursraum der Maria-Sibylla-Merian-Gesamtschule (MSM) in Bochum erscheinen diese Sätze. Lehrerin Andrea Kleffmann wechselt zur nächsten Folie der Präsentation. Zu sehen ist ein Bild von einem jungen Mann, sein Name und sein Alter – der Täter. „Was würden wir psychologisch tun, um zu klären, wie es zu dem Amoklauf kam?“, fragt Kleffmann ihren Kurs.
„True Crime“ ist seit zehn Jahren Unterrichtsfach an Schule in Bochum
An der Gesamtschule in Wattenscheid hat gerade die dritte Stunde begonnen, an Tischgruppen sitzen die rund 20 Schülerinnen und Schüler der zwölften Jahrgangsstufe und denken nach. Sie alle haben den Projektkurs „Kriminalpsychologie“ gewählt, ein Zusatzangebot für all diejenigen, die Psychologie im Grund- oder Leistungskurs lernen. Seit etwa zehn Jahren gibt es den Kurs, der sich großer Beliebtheit erfreut und sich mit einem Thema beschäftigt, das ohnehin viele Menschen fasziniert: „True Crime“, übersetzt so viel wie „Echte Kriminalfälle“.
„Die Idee ist von den Schülern gekommen“, erinnert sich Andrea Kleffmann. Die 61-Jährige unterrichtet seit über 30 Jahren an der MSM. Vor etwa zehn Jahren steht sie vor ihrem Psychologie-Leistungskurs, aus dem es damals aus Spaß heißt: „Können wir nicht mal was Ekliges machen?“ Auf die Frage der Lehrerin, was sie damit meinen, antwortet der Kurs: „Irgendwas mit Mord, Totschlag oder Kannibalismus.“
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Pünktlich zu Nikolaus gibt es für die Jugendlichen damals statt Schokolade Mord und Totschlag – und somit den ersten „True Crime“-Fall, erinnert sich Kleffmann: „Die fanden das genial und haben gefragt, ob wir künftig nur noch sowas machen können.“
Schülerinnen und Schüler entscheiden selbst, mit welchen Fällen sie sich beschäftigen
Was im „normalen“ Psychologie-Unterricht nicht permanent geht, wird also bald ein Projektkurs, den Kleffmann und Schulleiterin Sabine Stanicki unterrichten. Zwei Kurse gibt es in diesem Schuljahr.
Um welche Themen es geht, entscheiden die Schülerinnen und Schüler oftmals selbst. Die beiden Psychologie-Lehrerinnen haben mittlerweile ein großes Portfolio, was Kriminalfälle angeht. In dieser Schulstunde geht Kleffmann auf das Thema Amokläufe ein, zeigt dazu einen Screenshot eines Online-Artikels vom 23. Oktober. „Bombendrohung an zahlreichen Schulen“, heißt es in der Überschrift. Das Thema ist aktueller denn je.
Anhand verschiedener Paradigmen aus der Psychologie soll der Kurs Erklärungen finden, warum der 20-jährige Adam Lanza damals 28 Menschen getötet hat. Einen Denkanstoß gibt Lehrerin Kleppmann noch: Der Täter sei 20 Jahre alt, der Amoklauf fand an einer Schule statt, die jüngere Kinder besuchten. Wieso?
Im Kurs werden fünf Paradigmen aufgeteilt, anhand derer die Schülerinnen und Schüler den Fall analysieren sollen. Gerreth und Tom beschäftigen sich mit dem Ansatz des Behaviorismus, mit dem das äußere Verhalten des Menschen analysiert wird. „Man hat bei Lanza Videos über Amokläufe gefunden“, erklärt Tom. Mitschüler Gerreth ergänzt: „Seine Mutter war im Besitz von Schusswaffen.“ Zudem sei der Täter von seiner Mutter mit zum Schießstand genommen worden, wodurch das Schießen in Lanzas Augen als etwas Positives wahrgenommen worden konnte – eine sogenannte Konditionierung.
„Er lebte isoliert, hatte kaum Kontakt zu Eltern oder Mitschülern“
Yagmur und ihre Mitschülerin beschäftigen sich mit der Ganzheitspsychologie. „Er lebte isoliert, hatte kaum Kontakt zu Eltern oder Mitschülern“, so ein Teil ihrer Ergebnisse.
Während die Schülerinnen und Schüler analysieren, ist es im Kursraum der Wattenscheider Gesamtschule konzentriert still. Die Begeisterung für das Thema ist spürbar. „Dieses Fach gibt es nicht auf vielen Schulen“, sagt Saloua. Yagmur findet etwa drei Monate nach Schuljahresbeginn: „Der Kurs ist sogar noch besser als erwartet.“ (17). Die Fälle seien sehr spannend.
Für Gerreth (17) war zum einen Lehrerin Andrea Kleffmann ein Beweggrund, das Fach Kriminalpsychologie zu wählen – und die Begeisterung für das Thema selbst. „True Crime fasziniert mich“, sagt Gerreth. Er findet es total interessant, sich mit dem Bösen im Menschen zu beschäftigen und den Beweggründen dafür, warum Menschen zum Täter oder sogar Mörder werden. Tom ergänzt: „Jeder, der von einem Amoklauf liest, fragt sich warum, warum kam es dazu?“ Das Wissen, dass der Projektkurs ihnen mitgibt, macht es möglich, die Gründe zu analysieren.
Schüler nutzen Präsentation als Bewerbung für die Uni
Neben dem psychologischen Wissen lernen die Schülerinnen und Schüler auch, wie sie wissenschaftlich arbeiten. „Ihr müsst zitieren, belegen und nachweisen“, gibt ihnen Kleffmann einen wichtigen Ratschlag mit auf den Weg. Nachdem sie sich in den ersten Wochen gemeinsam mit Fällen beschäftigt haben, dürfen sich die Jugendliche nun eigene Fälle raussuchen und dem Kurs vorstellen. „Dabei sind in den vergangenen Jahren beeindruckende Beiträge entstanden“, so die Psychologie-Lehrerin. Darunter Videos oder aufwändige Produktionen, die auch schon dafür genutzt wurden, sich für ein Studium zu bewerben.