Paris. . 50 Jahre deutsch-französische Freundschaft: Für den Publizisten Alfred Grosser ist das eine große historische Leistung. Ein Beispiel dafür: die Städtepartnerschaft zwischen Recklinghausen und Douai.

Das „Maison de l’Europe“ in Douai hat eine feine Adresse. Die gediegene Häuserzeile am „Quai du Maréchal Foch“ säumt den Fluss Scarpe, der sich langsam durch den malerischen Kern der alten Handels- und Handwerkerstadt schiebt. Draußen weht die blaue Europafahne und drinnen, hinter dem typisch roten Backstein, ein Hauch von Stolz. „Douai ist die erste Stadt Frankreichs mit einem Europahaus“, sagt Marie Delecambre lächelnd.

Die Beigeordnete, eine Lehrerin, die mehrere Jahre in Jerusalem gelebt hat, ist zuständig für die internationalen Beziehungen. Die Partnerschaft mit Recklinghausen, der Stadt der Ruhrfestspiele, ist eine von sechs und zählt nicht nur zu den ältesten. „Sie ist auch die intensivste und lebendigste“, fügt Douais „Außenministerin“ hinzu.

Städtepartnerschaft. Das klingt für manche ziemlich fade und nach gekünstelter, amtlich verordneter „Jetzt-haben-wir-uns-alle-lieb“-Nettigkeit. Notorische Politikverdrossene glauben ja immer schon zu wissen, dass der Zweck solcher Städte-Ehen vornehmlich darin besteht, barocke Bürgermeister und verschwenderische Ratsvertreter auf Lustreisen zu schicken. Doch damit befinden sich die Skeptiker gründlich auf dem Holzweg. Erst recht wenn’s um die Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen geht, zwischen zwei Völkern, die über Jahrhunderte hinweg eine grausame Erbfeindschaft voller Kriege und Kämpfe, voller Erniedrigung und Demütigung pflegten.

Für den renommierten Publizisten Alfred Grosser (86), dem in Frankfurt geborenen und nach Paris emigrierten Intellektuellen, ist dieses Versöhnungswerk weniger die Leistung großer Männer wie Konrad Adenauer und Charles De Gaulle, sondern eines, an dem ein riesiges Heer von Namenlosen erfolgreich Hand angelegt hat: darunter Feuerwehrleute und Fußballspieler, Chöre und Künstler, Schüler und Studenten. Die Partnerschaften über den Rhein hinweg bringen Grosser, den Grandseigneur, zum Schwärmen. Er sagt: „In der ganzen Welt gibt es in dieser Intensität nichts Vergleichbares.“

Aus Erbfeinden wurden ziemlich beste Freunde

Schätzungsweise 2700 Partnerschaften haben seit dem Zweiten Weltkrieg ein engmaschiges Netz entstehen und aus Erbfeinden „Erbfreunde“ werden lassen. Die Bande zwischen Recklinghausen und Douai wurden 1965 geknüpft, nur zwei Jahre nach Unterzeichnung des Elysée-Vertrags. Es waren Bergleute und Gewerkschafter, und so kitschig es klingen mag, auch wackere Taubenzüchter, die sich damals als erste die Hände reichten. Douai, mitten im Land der Sch’tis gelegen und einst stolze Residenz des Grafen von Flandern, erlebte im 19. und 20. Jahrhundert – genauso wie die Vest-Metropole - eine zweite Blüte durch den Bergbau. Kohle, Kumpel, Taubenvattas – das schafft Intimität.

Fast genauso lange wie die Ehe der beiden Städte währt die von Dagmar und René Lavarde. Zwischen der angehenden Lehrerin aus Deutschland und dem jungen französischen Leutnant funkte es 1969 in der Garnisonsstadt Offenburg. Die Soldaten mit der Trikolore am Rock gingen gerne zu den Weinfesten, feierten Karneval mit den Einheimischen – und verliebten sich sehr oft. „Es gab damals unheimlich viele Heiraten zwischen Deutschen und Franzosen, übrigens sehr zur Freude der Generäle“, erinnert sich Dagmar Lavarde.

Lange Jahre voller Leid

Dagmar & René: Die Ehe der beiden spiegelt auch die komplizierte Geschichte der beiden Völker wider, die so lange voller Abgründe, Leid und Zerfleischung war. Sie hat tiefe familiäre Wurzeln im Elsass, jenes umkämpfte Grenzland, das alle Nase lang den Besitzer wechselte und mal französisch, mal deutsch war. Er erinnert an seine Wurzeln. „Mein Vater“, sagt er, „war Pazifist.“ Einer, der niemals Rache gepredigt habe, sondern Versöhnung. Und der seinen Kindern nach dem Krieg die feine Unterscheidung nahebrachte, dass nicht alle Deutschen Nazis waren, „sondern meistens Leute wie wir“.

Dabei hätte Renés Vater vielerlei Gründe gehabt, „die“ Deutschen zu hassen. Als Kriegsgefangener kam er 1940 zuerst in ein Gefangenenlager an der Ruhr. Doch dann machte er unliebsame Bekanntschaft mit den brutalen Gesellen von Gestapo und SS, die ihn wegen Spionageverdachts in finstere Kerker stießen. Der Weltkriegsveteran hätte später so manchen Grund finden können, seinem Sohn die Heirat mit einer Deutschen auszureden. Doch er tat’s nicht, und René Lavardes Augen werden feucht vor Rührung, wenn er sich an die charakterliche Festigkeit seines Vaters erinnert.

Eine Städtepartnerschaft als Dauerbeziehung

Seit gut vier Jahrzehnten lebt das Paar unter den „Sch’tis“, und Dagmar Lavarde sagt: „Ich fühle mich wohl in Frankreich.“ Was Deutsche von Franzosen lernen können? „Sie sollten lockerer und weniger stur sein“, sagt sie. Und umgekehrt? „Die Franzosen könnten sich bei den Deutschen die Fähigkeit zum Kompromiss abgucken.“

Seit einigen Jahren engagiert sich Dagmar Lavarde für die Partnerschaft zwischen Douai und Recklinghausen. Eine Städte-Ehe, der es ähnlich ergeht wie echten Ehepaaren kurz vor der Goldenen Hochzeit. Aus der stürmischen Romanze beim ersten Kennenlernen hat sich längst eine unspektakuläre Dauerbeziehung entwickelt. Anderswo existiert so manche Städte-Ehe nur noch auf dem Papier. Das trifft, bei aller Routine, die sich eingeschlichen hat, auf Douai und Recklinghausen nicht zu. Patrice Barrier, der Direktor des Europahauses, blickt optimistisch nach vorn: „Das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen, unsere Freundschaft mit Recklinghausen ist wirklich echt.“

Taubenväter und „Coulonneux“

So treffen sich die Taubenväter aus dem Vest wie eh und je mit den „Coulonneux“ aus Douai, die „Petriner“ besuchen das „Lycée Chatelet“, die Jugendkicker vom „Sporting Club“ dribbeln bei Turnieren in Recklinghausen, ein Bus aus Douai fährt traditionell zum Recklinghäuser Weihnachtsmarkt und die Archivare beider Städte stecken jetzt die Köpfe zusammen, um sich auf den hundertsten Jahrestag des Ersten Weltkriegs vorzubereiten.

René Lavarde, ganz Pazifist wie sein Vater, fügt einen leisen Satz hinzu mit einer ebenso banalen wie beruhigenden Gewissheit. „Krieg zwischen Deutschen und Franzosen“, sagt er, „den wird es nie mehr geben.“