Recklinghausen. . „Krieg und Frieden“ mit Bildgewalt und allen schauspielerischen Registern. Sebastian Hartmann wagte den Gewaltmarsch zum Monumentalismus und zeigte bis nach Mitternacht eine Essenz der Quasi-Philosophie Tolstois.
Das Über-Maß war Programm – und war natürlich genau so eineinhalb Jahrhunderte zuvor im literarischen Vorbild angelegt: in den, je nach Ausgaben, zwei bis vier Bänden von „Krieg und Frieden“. So wagte auch Sebastian Hartmann den Gewaltmarsch zum Monumentalismus und zeigte bis nach Mitternacht eine Essenz der Quasi-Philosophie Tolstois.
Es ist nicht die filmische Essenz des Liebesdramas zwischen Fürst Andrej, Prinzessin Natascha und Graf Pierre, dem adoptierten „Bastard“. Mit parodistischer Verve hatte das Ensemble alle Liebes-Konstellationen in einer einzigen Szene im Mittelteil des überlangen Abends gebündelt: mit Schwüren, Küssen und Umarmungen zu dritt.
„Den“ Pierre, „die“ Natascha – solche eindeutigen Rollen-Zuweisungen durchbricht die Leipziger Inszenierung. Dieser „Krieg und Frieden“ ist kein Star-Vehikel (genauso wenig wie im Vorjahr „Paris, Texas“ eines war). Dafür zeigt die Truppe des Centraltheaters eine großartige Ensemble-Leistung. Ob vereint, ob einzeln oder in Dialogen: die Schauspieler als „Mitgestalter“, wie Intendant Sebastian Hartmann sie nennt, zogen während dieser halben Nacht alle Register ihres Könnens. Das reichte von zarter Innigkeit über burleske Szenen bis zu bitterer Ironie und zu chorischem Gebrüll.
Leider zu viel Gebrüll. Denn die druckvoll sprechende Chor-Phalanx am Bühnenrand ist ein starkes Gift – das andere schon besser dosiert hatten. Etwa die „Räuber“ des Vorjahres, die Schiller mit vereinter Stimmgewalt wesentlich variationsreicher sprachen.
Dafür hat Sebastian Hartmann die stärkeren Bilder.
Der vom Regisseur mit dem Leipziger Maler Tilo Baumgärtel geschaffene Raum ist eine Wucht. Zwei monumentale Platten: Die untere mit ihrer leistungsstarken Hydraulik ist ungemein beweglich, ob als steile Rampe, ob schräg gekippt oder nach vorne gehoben zur Höhe über dem Bühnen-Abgrund. Die obere Platte ist zugleich Projektionsfläche für Grafiken und Videos – ein Mittel, das die Inszenierung, die ganz auf die Kraft ihrer Schauspieler vertraut, angenehm knapp dosiert. Für ein „Schlachtenpanorama“ sind die im diffusen Licht geschwenkten Flaggen mit Adler und Trikolore hinreichend überzeugende Requisiten.
Das Terzett um Sascha Ring verneigt sich musikalisch nicht vor russischer Nationalromantik. Die elektrisch verstärkten Streicher bilden zwar eine Brücke zwischen Elektronik und Klassik. Aber in diesen eindringlich-ruhigeren Momenten nähert sich der frühere Techno-Musiker eher dem schwelgerischen Sound der britischen „Cocteau Twins“. Auch wenn Sascha Rings „Apparat“ sich zu rauerer Dramatik auftürmt: Diese Musik ist Bejahung, nicht Zerstörung.
Die „Basslinie“ dieses wuchtigen Schauspiels ist also nicht das Schicksal der – wie Pierres grauer Zylinder – von Schauspieler zu Schauspieler weiter gereichten Romanfiguren. Es ist Tolstois ethisches Programm. Der Chor macht dies in den ersten Momenten der Aufführung deutlich, als er jene Verbrechen aufzählt, die der Krieg scheinbar legitimiert. Es ist aber auch eine Ethik, die Tolstoi gegen den eigenen Zynismus, gegen Kirchenverachtung und privaten Weltekel entwickelte.
Und der scheint durch: in der Arroganz seiner Aristokraten, in ihrer Frauenfeindlichkeit – und in der Hassfigur Napoleons. Jana Zöll, die zerbrechliche Person, die sonst in ihrem kleinen Rollstuhl über den Bühnenrand gejagt wird, ist in einer wenige Minuten kurzen Doppel-Szene zuerst wimmernder Säugling, dann der geifernde Imperator Bonaparte. Manche Bilder dieser übergroßen Inszenierung wirken viel stärker nach als die Worte des bitteren Romanciers.