Velbert. . Kassandra (10) aus Velbert erholt sich von ihrem Martyrium. Sie wurde mit einem Stein lebensgefährlich verprügelt und in einen Gully geworfen.

Trotz des grausamen Verbrechens, das im September 2009 Velbert und ganz Deutschland erschütterte, kann Kassandra wieder lachen. Wie alle Zehnjährigen freut auch sie sich auf Weihnachten. Die Narben aber bleiben - nicht nur äußerlich. Ein kurzer, aber durchdringender Blick, eine augenzwinkernde Bestätigung der Eltern, ein warmer Schluck Kakao – der Bann ist gebrochen. Sie wird erzählen.

Wie es ihr so geht? „Gut. Wir ziehen nämlich um. Und ich kriege das größte Zimmer in der neuen Wohnung.“ Warum? „Weil ich so gerne spiele. Und meine Schwester nimmt das kleinste Zimmer. Dann muss sie weniger aufräumen“, lästert die Göre. Und auch der Bruder hat bald sein eigenes Reich. Keck, in ihrer rosafarbenen Thermohose, sitzt Kassandra am Tisch und plaudert plötzlich aus dem Nähkästchen. „Ich spiel’ mit Barbie-Puppen. Und zu Weihnachten hätte ich gerne ganz viele bunte DS-Stifte für den Nintendo.“

Kassandra aus Velbert hatte wohl eine Brigade von Schutzengeln

Dass sie, die jetzt zehn Jahre junge Kassandra, bereits eine zweite Weihnacht erleben darf, „ist einer ganzen Brigade von Schutzengeln zu verdanken“, sagt Mutter Inga Mittelbach (30). Das Mädchen aus Velbert-Neviges, das am 14. September 2009 mit einem Stein lebensgefährlich geprügelt und anschließend in einen Gully gesteckt worden ist. Das Mädchen, das ihren Peiniger gut kannte. Und zur Tat nur sagt: „Ich hab’ ihn verpetzt, hab’ gesagt, dass er Zigaretten geraucht hat. Und das war die Rache.“ Mehr sagt sie nicht. Wechselt das Thema, greift nach der Hand von Vater Swen Mittelbach (30) und drückt ihm einen Schmatzer auf den Mund.

„Sie wechselt das Thema immer“, erklärt Inga Mittelbach, ausgebildete Kinderpflegerin. „Und wir bohren auch nicht nach. Irgendwann wird sie reden. Oder auch nicht. Die Psychologen haben uns dringend davon abgeraten, Kassandra zu bedrängen, auszufragen.“

„Diese sechs Stunden waren die schlimmsten meines Lebens“

Auszufragen darüber, was genau an diesem Septemberabend passiert ist. An diesem Abend, „es war schon Spätsommer und nicht mehr so warm“, als Inga Mittelbach noch kurz vor sechs einen Arzt-Termin hatte. Ihr Mann, der extra zeitig genug von seiner Arbeit bei einem Gerüstbau-Unternehmen heimgekommen war, sie begleitete, Kassandra – wie so oft – im Jugendtreff 51, nicht weit weg von der elterlichen Wohnung, aufgehoben war, die ältere Schwester Kimberly (heute 11) zu Hause wartete und Sohn Keanu (12) in der Wuppertaler Boxschule trainierte. Kassandra kam nicht. Wo sie doch sonst immer so pünktlich war. Die Eltern waren längst wieder daheim, Keanu auch.

Kassandra lacht wieder

Kassandra und ihre Familie im Redaktionsgespräch. Foto: Jakob Studnar
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Kurz nach sieben machte sich die ganze Familie auf. Im Jugendtreff war Kassandra nicht mehr. „Die ist schon lange weg“, so die Mitarbeiterin. Mittelbachs suchten die gesamte Umgebung ab. Erfolglos. Nicht ahnend, dass sie mehrfach am Kanalschacht, dem Gefängnis ihrer in Lebensgefahr schwebenden Tochter, vorbeigelaufen sind. „Wir gehen zur Polizei“, entschied Swen Mittelbach. „Als wir unsere Tochter vermisst gemeldet haben, reagierten die Beamten ganz schnell. Sofort wurde der Helikopter mit Wärmebildkamera gestartet und die Hundestaffel angefordert. Wir haben mit dem Mann gesprochen, der mit dem Hund um halb drei nachts unsere Tochter gefunden hat.“

Swen Mittelbach holt tief Luft. „Diese sechs Stunden waren die schlimmsten meines Lebens“, sagt er leise. Und schaut zu seiner Frau, die zustimmt: „Nur einfach dasitzen, nichts machen können. Warten. Grausam.“ Was beiden durch den Kopf ging? „Nichts. Und alles.“

„Die Bilder waren erschütternd“

Beide loben den Polizei- und Rettungseinsatz. Kassandra war sofort in die Uni-Klinik Essen, Intensivstation, gebracht worden. Mutter Inga machte sich nachts mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf. Ein Auto stand nicht zur Verfügung. Vater Swen blieb bei den beiden Geschwistern.

„Die im Klinikum wussten nichts von der Einlieferung. Ich musste mich erst mal durchfragen“, so Inga Mittelbach, bis sie endlich am Bett ihrer an Schläuchen hängenden, bis zur Unkenntlichkeit entstellten Tochter stehen konnte. „Sie lebt.“ Inga Mittelbach: „Operationen folgten und ein Stück aus der Schädeldecke entfernt, die linke Gehirnhälfte ist schwer geschädigt. Der Gehörgang war abgerissen und der Ringnerv auf der linken Seite zerstört.“

Holger Boden, Velberter Anwalt für Familienrecht, der die Mittelbachs vertritt: „Wir haben im Prozess die Fotos der Gerichtsmedizin gesehen. Das ganze Gesicht war aufgerissen. Selbst die Staatsanwaltschaft und der Richter waren entsetzt, schockiert, sprachlos.“ Swen Mittelbach: „Die Bilder waren erschütternd. Aber ich habe immer gedacht, dass ich ja weiß, wie Kassandra heute aussieht. Das gab mir Halt.“

Medien umzingeln das Haus der Familie

„Wir kannten den Täter“, setzt er fort. „Der hat andere Kinder, auch unseren Sohn, immer gerne mal angestiftet, Unsinn zu machen, Unerlaubtes zu tun. Zeitweise haben wir Keanu untersagt, mit dem Jungen etwas zu unternehmen.“ Doppelte Rache?

Und dann die Medien. „Unser Haus war umzingelt. Tagelang, wochenlang. Aber dank lieber Nachbarn und guter Freunde wurden wir immer per SMS gewarnt, wenn vor der Tür wieder Betrieb herrschte. Es gab einfach keine ruhige Minute mehr“, weiß Swen Mittelbach noch wie heute. „Aber wir haben ganz fest zusammengehalten.“ Inga nimmt die Hand ihres Mannes. „Es bringt doch nichts, immer und ständig von vorn darüber nachzudenken. Wir schauen nach vorne.“ Swen Mittelbach bestätigt: „Die Ärzte vermuten, dass Kassandra sich so gut erholt hat, weil wir eine so positive Ausstrahlung auf das Kind haben.“

Kassandra möchte wieder in den Jugendtreff, „der Junge ist ja nicht mehr da“

Inga und Swen Mittelbach wissen, dass ihre Tochter Folgeschäden mit sich schleppt. Die Narben im Gesicht und am Oberkörper sind ein äußeres Zeichen. Kassandras Sprachzentrum ist geschädigt, ihre körperliche Koordination, das Gleichgewichtsgefühl gestört, die Trauma-Schäden nicht abzuschätzen und die Ergo- und Logo-Therapien noch längst nicht vorbei.

Vor der Tat galt das Mädchen als entwicklungsverzögert, besuchte eine Förderschule. „Wir hatten gerade alle Therapien recht erfolgreich beendet, dachten sogar an einen Schulwechsel“, so Inga Mittelbach. Nach einem dreiviertel Jahr Krankenhaus, Reha und langsamer Wiedereingewöhnung nimmt das Mädchen seit Ostern wieder regelmäßig am Unterricht teil. „Schule ist auch ganz schön. Manchmal“, schaltet sich Kassandra wieder ins Gespräch ein. Und dann fällt ihr auch noch was zum Jugendtreff 51 ein. „Da geh’ ich später auch mal wieder hin. Der Junge ist ja nicht mehr da.“ Nein, der 15-jährige Nevigeser sitzt wegen versuchten Mords für achteinhalb Jahren hinter Gittern.

Kassandra wechselt das Thema. Weihnachten ist jetzt dran. Und damit die DS-Stifte für den Nintendo. „Das wird chaotisch.“ Das Ehepaar zwinkert sich zu. „Dann stecken wir mitten im Umzug. Aber irgendwie machen wir’s uns schön gemütlich.“