Neviges. Ein neunjähriges Mädchen ist in der Nacht auf Dienstag aus einem Kanalschacht gerettet worden. Es war auf dem Weg von einer offenen Betreuungseinrichtung nach Hause nicht angekommen. Die Mordkommission Düsseldorf ermittelt - die Fahnder gehen von versuchter Tötung aus.

Für Sabine Anger* beginnt der Schrecken in der Nacht zu Dienstag, und der Schrecken klingt wie ein Hubschrauber. „Um 11 Uhr ungefähr fing das an mit dem Lärm”, erinnert sich die Mutter eines Jungen aus der Grundschule – da schaut sie aus dem Fenster, sieht einen Hubschrauber knapp über Velbert-Neviges, und seine Suchscheinwerfer fahren über den Boden: „Ich wusste sofort, da wird ein Mensch vermisst. Ich dachte, mein Gott, lass' es kein Kind sein.”

Es ist ein Kind. Es ist ein neunjähriges Mädchen, das sie da suchen mit Polizei und Feuerwehr, mit Hunden und Hubschraubern, und sie werden es finden nach ein Uhr in der Nacht, bewusstlos und durch Schläge lebensgefährlich verletzt, es steckt in einem Kanalschacht, es wurde dort offenbar, man muss das so sagen, hineingesteckt – denn der Deckel liegt auf, einer dieser großen Deckel, die Kanalarbeiter sonst mit Haken anheben. „Wenn das Kind nicht gefunden worden wäre, wäre es gestorben”, sagt Staatsanwalt Heribert Kaune-Gebhardt im nahen Wuppertal: „Wir ermitteln wegen eines versuchten Tötungsdelikts.” Der Hintergrund der Tat sei „noch völlig offen”, auch die Frage eines sexuellen Missbrauchs.

Fest steht: Bis Montagabend 18 Uhr ist es für alle Beteiligten ein ganz normaler Montag. Wie jeden Nachmittag, besucht die Neunjährige die offene Betreuung der städtischen katholischen Grundschule Ansembourgallee; sie selbst geht nicht dort zur Schule, wohl aber ihre ein Jahr ältere Schwester. „Die Kinder aus der Gruppe haben mit Bügelperlen gespielt”, sagt der Sozialpädagoge Thomas Prien, der die Einrichtung leitet. Das Mädchen habe „uns noch geholfen, aufzuräumen, da hat sie von uns ein Eis bekommen zur Belohnung”. Dann, gegen 18 Uhr, ist sie weg, so wie jeden Abend, wenn sie alleine die zehn Minuten nach Hause läuft. „Wir haben uns nur gewundert, dass sie nicht Tschüss gesagt hat”, sagt Pier.

Suchaktion mit Hubschrauber

Was dann passiert, ist offen; eine Viertelstunde später taucht die ältere Schwester suchend auf, dann meldet sich der Vater mehrfach telefonisch, zusehends beunruhigt: Hier ist sie weg, dort nicht angekommen. Die Helfer aus der Betreuung suchen auf dem Parkplatz, suchen in der Turnhalle – niemand da. Jetzt alarmieren die Eltern die Polizei: Ihre Tochter, grausig zu sagen, ist wie vom Erdboden verschluckt. Der Kanalschacht jedenfalls, in dem ein Suchhund aus Hattingen später auf das Mädchen stößt: Er liegt ums Eck, wenige Meter entfernt nur, aber nicht einzusehen, gerade hinter dieser Turnhalle an der Tönisheider Straße. „Fünf Minuten nur” habe es gedauert, das Mädchen herauszuholen, sagt Peter Haase, der Hundestaffelleiter, der hinunter kletterte: Aber „das kommt einem vor wie eine Stunde”.

Ganze Nacht nicht geschlafen

Für Christa Schreven beginnt der Schrecken kurz vor Unterrichtsbeginn am Dienstag. Bei ihr, der Schulleiterin, melden sich die Eltern des geretteten Kindes und entschuldigen die ältere Tochter: Sie komme heute nicht, sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen, der Schwester sei etwas geschehen. „Ich bin schockiert, dass Kindern so etwas passieren kann, die hier sicher spielen und die einen kurzen Weg nach Hause haben”, sagt Christa Schreven am Mittag: „Und das in unserem beschaulichen Neviges!”

Da hat sich die Nachricht, oder besser ein diffuses Gerücht über „etwas Schreckliches mit einem kleinen Mädchen aus der Grundschule”, längst im Ort herumgesprochen, ist wie das sprichwörtliche Lauffeuer von Mutter zu Mutter gesprungen. Jetzt, nach der fünften Stunde, stehen viele von ihnen auf der Straße vor der Schule und warten auf den Schulschluss, darauf, ihre Kinder endlich in die Arme nehmen zu können. „Ich hab' meine beiden heute alleine zur Schule geschicht”, sagt Manuela Kurzmann und drückt den siebenjährigen Dominik an sich: „Als ich das hörte, stand mir die Panik in den Augen.” Und eine andere Mutter sagt: „Ich dachte, meine Tochter ist jetzt selbstständig, sie kann alleine gehen. Das ist jetzt erst mal vorbei.” Für Neviges beginnt der Schrecken erst.

* Name geändert