Neviges. In Velbert-Neviges trifft sich die evangelische Gemeinde seit dem Überfall Putins auf die Ukraine zum Friedensgebet. Die Resonanz ist ungebrochen

Auf dem Altar brennen eine gelbe und eine blaue Kerze, Punkt 18.55 Uhr läuten die Glocken. Um Punkt 19 Uhr müssen sie verstummen, das ist Birgit Dywicki wichtig: Zwar ist Birgit Dywicki als Küsterin inzwischen „in Rente“ und Nachfolger Jörg Sindt macht seine Sache prima, aber der kann eben nicht immer. Kurz vor 19 Uhr huschen schnell noch ein paar Menschen in die Kirche, ein kurzes Kopfnicken, man kennt sich. Seit einem Jahr organisiert die Gemeinde in der Stadtkirche in Velbert-Neviges von 19 bis 19.30 Uhr ein ökumenisch Friedensgebet für die Ukraine. 30 Minuten innehalten, gemeinsam oder auch für sich beten, singen, manchmal auch über Ängste reden. Eine halbe Stunde, die vielen auch nach einem Jahr noch immens wichtig ist. Deshalb fallen die Gebete nie aus – nicht in den Ferien, nicht an Feiertagen, auch nicht Rosenmontag. Durchzuhalten wie ein Marathonläufer und dabei Sprinterqualitäten zu zeigen – das beweist die Gemeinde in dieser besonderen Situation.

Einen Tag nach dem Überfall gab es das erste Friedensgebet in Velbert-Neviges

Vor einem Jahr waren sie unglaublich schnell, die Frauen und Männer der verschiedenen Gruppierungen, etwa CVJM, Chöre oder Presbyterium. Einen Tag nach dem schrecklichen Überfall Putins auf die Ukraine stellten sie das erste Treffen in der Stadtkirche auf die Beine, Punkt 19 Uhr am 25. Februar. Man müsse den Menschen jetzt Halt und Kraft geben, „gegen die lähmende Angst, gegen das Gefühl der Ohnmacht“, so hatte Pfarrer Martin Weidner damals gesagt. Jeden Tag kamen in den ersten drei Monaten die Menschen zusammen, jeden Tag fand sich jemand, der diese 30 Minuten leitete. Mit einem Impuls, einem Gebet, einem Lied. Auch viele Katholiken machten und machen mit, sei es als Besucher oder als Leitung.

Auch der ehemalige Pfarrer schaut manchmal vorbei

Innehalten, hoffen, beten: Susanne Gruber (links) und Monika Schulz gehören zu dem Kreis jener, denen das Friedensgebet in der Stadtkirche nach wie vor wichtig ist.
Innehalten, hoffen, beten: Susanne Gruber (links) und Monika Schulz gehören zu dem Kreis jener, denen das Friedensgebet in der Stadtkirche nach wie vor wichtig ist. © FUNKE Foto Services | Alexandra Roth

Fast drei Monate gab es die Friedensgebete täglich, doch immer jemanden zu finden, der sich Gedanken zur Gestaltung dieser 30 Minuten macht, das wurde zunehmend schwieriger. Seit Mai 2022 trifft man sich jeden, wirklich jeden Montag und Donnerstag. Dieses Mal hat Pfarrer Martin Weidner seine Gitarre dabei, er springt immer dann ein, wenn gerade eine Lücke ist in der Liste, die vorn in der Stadtkirche ausliegt. Hier kann sich eintragen, wer wann das Gebet leiten möchte. „Anfangs hatte mein Mann auch mal Mails verschickt aber inzwischen fügt es sich irgendwie immer“, sagt Ehefrau Christine, ebenfalls Theologin, auch sie ist oft vorn am Altar. „Hier machen aber noch sehr viele andere mit, bitte mich nicht herausstellen.“ Ein Name sei aber doch erwähnt: Auch der ehemalige Pfarrer Detlef Gruber leitet ab und zu das Friedensgebet, ebenso Ehefrau Susanne, die jahrzehntelang für den Kindergottesdienst verantwortlich war. An diesem Abend ist sie einfach nur Besucherin – beten, innehalten, Kraft schöpfen.

Keine menschenverachtenden Hasstiraden

Die Gitarre hat einen ganz eigenen Klang in der mächtigen Stadtkirche, zwischen den Strophen des Liedes lässt Pfarrer Martin Weidner die Menschen an seinen Gedanken teilhaben. Dieser Krieg, der Überfall auf wehrlose Menschen, sei furchtbar. Aber trotzdem bleibe auch ein Aggressor wie Putin ein Mensch und sei kein Ungeheuer, man möge sich nicht hinreißen lassen zu menschenverachtenden Hasstiraden. Zwischen den Liedern, Gedanken und Gebeten immer wieder Stille, die jeder für sich nutzen kann. Einige sitzen nur einfach da, eine Frau dankt Gott für alle Menschen, die andere bei sich aufnehmen, sie unterstützen. Eine andere Besucherin betet, dass „Putin Gott in sein Herz lasse, dass Gott sein Herz erweiche und dieser Wahnsinn aufhört.“

Stille ist so wohltuend wie die Gemeinschaft

Noch ein Moment des stillen Innehaltens, ein gemeinsames „Vater unser“, dann leert sich die Stadtkirche langsam. Gabriele Schnabel ist froh, wieder dabei gewesen zu sein: „Das Thema geht im Alltag doch schnell unter, aber man darf nicht nachlassen, darf nicht aufhören, mentalen Widerstand zu leisten.“ Nicht nur Nachrichten zu konsumieren, sondern „etwas machen, sich beteiligen“, das sei ihr wichtig. Katharina und Jörg Sindt können an diesem Tag ausnahmsweise beide kommen, der Posaunenchor fällt aus. „Auch Stille macht etwas mit einem“, zeigt sich der Küster der Gemeinde beeindruckt. Findet auch Monika Schulz, immer mal wieder in der Stadtkirche hereinschaut. „Es hat letztens ein bisschen nachgelassen. Aber ich werde mir jetzt wieder mehr die Zeit nehmen.“ Man könne ja auch zuhause allein beten, „aber dieses bewusste Hinwenden, heraus aus der Wohnung, das ist einfach etwas anderes“. Christine Weidner schaut beim Herausgehen noch mal kurz auf die Liste am Ausgang. Sieht ganz gut aus – der Gemeinde und auch den katholischen „Nachbarn“ gehen noch nicht die Puste aus.

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