Neviges. Auf einer Baustelle in Neviges wurde tief im Boden ein Friedhof entdeckt. Archäologen sichern die Skelette und entdecken Erstaunliches.

Vorsichtig setzt Archäologe Hans-Peter Klossek den Winkelkratzer an, schabt behutsam die Erde beiseite. Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt, nichts darf beschädigt werden. Denn der Schädel, den er gerade freilegt, könnte viel darüber aussagen, wie die Menschen im 18. Jahrhundert in Neviges gelebt haben. Auf der Baustelle des ehemaligen Krankenhauses an der Tönisheider Straße hebt ein Archäologen-Team zurzeit mehrere verschüttete Gräber eines alten Friedhofes aus. Ein Bodendenkmal, das bei den Vorarbeiten zum Bau von 53 Eigentumswohnungen entdeckt wurde.

Fundamente einer Kirche und ein Friedhof

„Eine Karte und die Nähe zum Ortskern lassen vermuten, dass es hier eine Kirche gegeben haben muss“, sagt Jens Schubert, Referent für Öffentlichkeitsarbeit beim LVR-Amt für Bodendenkmalpflege im Rheinland. Nach einer Vorgabe des LVR sah sich die Grabungsfirma EggensteinExca daraufhin das Gelände im Herbst 2020 an, fand erste Fundamente einer Kirche und deutliche Hinweise auf den zugehörigen Friedhof. Den eigentlichen Grabungsauftrag musste dann der Bauherr Pro Objekt erteilen, der auch die Kosten trägt: „Rund 25.000 Euro“, so schätzt Geschäftsführer Wolf Neudahm.

Knochen werden dokumentiert

Ein Dokument für die Nachwelt: Die Skelette werden vorsichtig gesichert, die Archäologen dokumentieren jedes Detail.
Ein Dokument für die Nachwelt: Die Skelette werden vorsichtig gesichert, die Archäologen dokumentieren jedes Detail. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Zurück zur Baustelle: Vor dem großen Haufen roter Steine – Überbleibsel des abgerissenen Krankenhauses und Material für einen Teil der Neubauten – stecken überall kleine weiße Schildchen im Boden, insgesamt 60 an der Zahl. „Das sind Stellnummern, hier liegen Befunde im Boden“, erläutert Archäologe Thies Evers, der die Grabungsarbeiten leitet und an diesem sonnigen Morgen mit seinem Schreib-Klemmbrett ordentlich Meter macht, immer hin und her, von Grabstätte zu Grabstätte. „Wir legen die Knochen-Überreste frei, messen alles aus und fotografieren sie. Alles wird genau dokumentiert.“ Bestattungen habe es hier von 1790 bis 1819 gegeben. Kleine pinkfarbene Kreise markieren die Vermessungspunkte, die Fundorte werden mit einem Satelliten gestützten Gerät geortet. Dass der Grabungsleiter lieber wie ehemals mit einem dicken Holzklemmbrett und nicht etwa mit einem Laptop von Fundort zu Fundort geht, hat einen einfachen Grund: „Wenn mir das Ding mal runterfällt, ist es nicht so schlimm. Und Strom brauch ich auch nicht.“

Weitere Wissenschaftler kommen zu Wort

Unter dem Materialhaufen – zerkleinerte Steine des alten Krankenhauses –  befindet sich ein weiteres Bodendenkmal.
Unter dem Materialhaufen – zerkleinerte Steine des alten Krankenhauses – befindet sich ein weiteres Bodendenkmal. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Da die Gemeinde, zu der der Friedhof einst gehörte, nicht mehr existiert, gebe es bisher kein Interesse an einer späteren Umbettung, so Dr. Georg Eggenstein, Chef der Grabungsfirma EggensteinExca. Später heißt, nachdem die Archäologen die Skelette genau untersucht und noch weitere Wissenschaftler sie inspiziert haben. „Wir reinigen sie und werden dann nach Rücksprache mit dem LVR-Amt für Denkmalpflege Anthropologen hinzuziehen.“ Ein Zweig der Anthropologie, also der Lehre vom Wesen des Menschen, befasst sich mit der Entwicklungsgeschichte. „Anhand der Knochen kann man zum Beispiel ableiten: Wie sah das Arbeitsleben der Menschen aus, ihr Alltag? Haben sie körperlich schwer gearbeitet, in welchem gesundheitlichen Zustand waren sie, gab es Mangelerscheinungen?“, erläutert Eggenstein. „In diesem Fall sind die Knochen recht gut erhalten, was auch an der Bodenbeschaffenheit liegt.“

Keine Routine-Arbeit

Büro mit 30 Mitarbeitern

Die Grabungsfirma EggensteinExca beschäftigt insgesamt 30 Mitarbeiter: neun Archäologen und Grabungshelfer. Das Team, das seinen Sitz in der Ruinenstraße in Dortmund hat, ist in ganz NRW tätig.Bisher wurde auf dem 8000 Quadratmeter großen Grundstück, auf dem der Investor Pro Objekt aus Wuppertal in sechs Häusern 53 Eigentumswohnungen errichten lässt, auch ein alter Brunnen gefunden. Er musste unterirdisch erhalten bleiben, wurde verfüllt und liegt im Bereich der späteren Tiefgarage.Im Sinne der Nachhaltigkeit werden an einigen Stellen des Neubaues 20.000 Kubikmeter zerkleinerte Steine aus dem ehemaligen Klinikgebäude weiterverwendet.

Diese anthropologischen Untersuchungen würden entweder an Universitäten durchgeführt oder auch von Freiberuflern, so gebe es beispielsweise Anthroposophinnen in Bremen und Paderborn. Sind alle Untersuchungen abgeschlossen, erläutert Jens Schubert vom LVR, werde man entscheiden, was mit den Skeletten geschieht, ob und wo sie eventuell ausgestellt werden. Dazu Dr. Eggenstein: „Wir sichern und dokumentieren ja nur, das ist unsere Aufgabe.“ Auf Wunsch würden die Skelette in Absprache mit dem LVR zur Umbettung freigegeben. Übrigens seien neuzeitliche Friedhöfe als Bodendenkmal zwar keine Seltenheit, von Routine möchte der Archäologe aber dennoch nicht reden: „Ein Mensch ist etwas anderes als eine Tonscherbe. Da muss man schon pietätvoll drangehen.“

Ein Haar wird untersucht

Grabungshelfer Gregor Boksch vermisst einen Fundort. Vereinzelt fanden sich noch eiserne Sargnägel oder Sarghalter.
Grabungshelfer Gregor Boksch vermisst einen Fundort. Vereinzelt fanden sich noch eiserne Sargnägel oder Sarghalter. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Das merkt man dem Fünfer-Team an der Tönisheider Straße an. Man arbeitet ruhig und konzentriert, niemand brüllt, keine Radiomusik wummert über den Platz. An jedem Grab liegen kleine Plastik-Gefäße und Tütchen. Archäologie-Student David Kukowka hat bereits einen eisernen Sargnagel und einen Pfeifenkopf gefunden. „Und ein Haar, aber das ist schon abtransportiert.“ Das Geschlecht eines Menschen könne man übrigens auch am Schädel erkennen: „An einer Stelle am Kiefer, und auch an der Nasenwurzel.“ Bis Ende der Woche sollen alle Knochen und Bodenfunde gesichert sein. Dann geht es für eine Zeit lang normal auf dieser ganz besonderen Baustelle weiter: „Wenn die Fläche frei gegeben ist, beginnen wir an anderer Stelle mit den Tiefbauarbeiten“, kündigt Pro Objekt-Geschäftsführer Wolf Neudahm an.

Investor bleibt gut gelaunt

Die Zusammenarbeit mit dem LVR-Amt für Bodendenkmalpflege und dem Archäologen bleibt aber weiter bestehen. Denn unter dem hohen Materialberg, der laut Wolf Neudahm frühestens zum Ende des Jahres 2021 abgebaut sein werde, liegt ein weiteres Bodendenkmal: Ein alter Hof, Teile von hochmittelalterlichen Gefäßen wurden bereits gefunden. „Neudahm: „Wir rücken dann wieder mit unserer Baggerschaufel ohne Zähne an, bevor die Archäologen kommen.“ Es gibt für einen Investor einfachere Baustellen, doch Wolf Neudahm lässt sich nicht die Laune verderben: „Das Interesse an den Eigentumswohnungen ist riesig groß. Das entschädigt uns für vieles.“