Neviges. Der Fall Kassandra erschüttert die Velberter im Herbst 2009 bis ins Mark. Ein Junge (14) hatte das Kind in einen Gully-Schacht geworfen.
Hoch wuchert das Gebüsch neben der Sporthalle an der Tönisheider Straße. Dort, wo vor zehn Jahren ein Verbrechen geschah, das eine Stadt bis ins Mark erschütterte. Der Fall Kassandra. Ein 14-Jähriger steckt ein neunjähriges Mädchen in einen Kanalschacht. Wirft noch Steine hinter her, schließt den Gullydeckel und überlässt das schwer verletzte Mädchen seinem Schicksal. Kassandra überlebt, wird in letzter Minute von einem Spürhund entdeckt und vor dem Ertrinken gerettet. Der Täter wird später wegen versuchte Mordes zu achteinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. Die Nacht auf den 15. September und auch die Wochen darauf wird Polizeihauptkommissar Ulrich Löhe, seit 25 Jahren Pressesprecher der Kreispolizei Mettmann und Ur-Nevigeser, nie vergessen.
Die Eltern ahnten Schreckliches
„Ich hörte abends einen Hubschrauber. Als der auch nach 30 Minuten noch über dem Tal hing, da habe ich mal die Kollegen in der Leitstelle angerufen.“ Die Antwort war: Ein neunjähriges Mädchen wird vermisst. Es war gegen 20.50 Uhr, als Kassandras Eltern voller Sorge die Beamten alarmierten. Längst hätte Kassandra von dem „Treff 51“, dem Jugendtreff in der Tönisheider Straße, zurück sein müssen, zumal ihr Elternhaus nur etwa 100 Meter weit entfernt von dem Jugendtreff lag. Die Eltern ahnten Schreckliches, denn Kassandra galt als sehr zuverlässig.
Sofort seien Beamte aus dem ganzen Kreisgebiet angerückt, erinnert sich Ulrich Löhe. Eine Maschinerie sei in Gang gekommen, bei der ein Rädchen ins nächste griff. Die Beamten erkundigten sich bei Kassandras Eltern, wo ihre Tochter vielleicht hingegangen sein könnte. Klapperten Adressen ab, fragten Bus- und Taxifahrer, ob ihnen etwas aufgefallen sei. Ulrich Löhe: „In Zeiten, in denen es noch kein Facebook, keine sozialen Medien gab, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Viele suchten spontan mit.“
Zusätzliche Spürhunde angefordert
Nach Mitternacht – es wurde immer kälter und begann zu regnen – rückte eine weitere Bereitschaftspolizei aus den Nachbarstädten an, samt Hundestaffel. Die Kollegen hatten inzwischen auch Kontakt aufgenommen mit anderen Hundeführern. „In kürzester Zeit kamen sieben zusätzliche Spürhunde zusammen, das funktionierte wirklich gut. “ Darunter Christo, ein australischer Hütehund aus der Suchhunde-Staffel des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB).
Christo setzte sich vor einen Gully
Gottesdienste und Spendenaktionen
Auf vielen Ebenen haben die Nevigeser damals ihre Anteilnahme gezeigt und versucht, das Unfassbare zu verarbeiten. In der Stadtkirche kamen die Menschen in einem Gottesdienst für Kassandra zusammen. Die Gemeinde, so hieß es, wollte in dieser Zeit Halt geben.
Kindergärten und Unternehmen aus Neviges hatten für Kassandras Familie gespendet, um den Eltern und Geschwistern zum Beispiel einen Urlaub zu ermöglichen.
Gesammelt hatten sich alle auf den Schulhof neben der Sporthalle, so erinnert sich der Polizei-Pressesprecher, geplant sei gewesen, erst die Straßen zu Kassandras Elternhaus abzusuchen und dann den Wald oberhalb des Altenheims Domizil. Doch Christo zog plötzlich in Richtung Sporthalle, setzte sich vor einen Gully „und zeigte an“. Die Beamten öffneten den schweren Gullydeckel, leuchteten in den Schacht und sahen unten bewusstlos Kassandra liegen – den Körper mit Steinen bedeckt. Das schwer verletzte und unterkühlte Kind hätte nicht später gefunden werden dürfen. „Es hatte stark geregnet. Kassandra hätte auch ertrinken können“, sagt Ulrich Löhe. In jener Nacht hatte er sich selbst in den Dienst versetzt. „Die erste Mitteilung hab ich noch nachts geschrieben. Später kamen Anfragen aus der ganzen Welt.“
Mordkommission beginnt nachts ihre Arbeit
Während Kassandra in die Uniklinik Essen gebracht wird, nimmt eine Mordkommission aus Düsseldorf noch in der Nacht die Arbeit auf. Untersucht jeden Zentimeter, Kassandras Kleidung wird aus der Klinik geholt, Zeugen werden nachts befragt. Ulrich Löhe: „Das war ein riesengroßes Engagement, von allen Seiten, auch vom DRK und der Feuerwehr, die uns den Schulhof ausgeleuchtet hat.“
Knapp drei Wochen lang sucht die Polizei mit Hochdruck nach dem Täter. „Es gab unheimlich viele Zeugenaussagen zu verarbeiten.“ Die Polizei ging mit Fahndungsplakaten, die Kassandras Regenjacke und einen Schuh zeigten, auf den Wochenmarkt, befragte jeden, ob er etwas gesehen habe. Letztlich, so Löhe, sei die beste Zeugenaussage jene gewesen, die einen Jungen am Spätnachmittag des Tattages fluchtartig mit dem Rad vom Jugendtreff wegradeln sah. Eine Spurenkette führte schließlich am 4. Oktober 2009 zur Festnahme des 14-Jährgen: Ein Junge aus der Nachbarschaft, der Kassandra kannte und wegen Verhaltensauffälligkeiten beim Jugendtreff Hausverbot hatte.
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Kassandra konnte sich bis zum Prozess nicht an die Tat erinnern, der Junge legte unter Ausschluss der Öffentlichkeit – so sieht es die Strafprozessordnung vor – ein Geständnis ab. Sein Motiv: Er machte Kassandra dafür verantwortlich, dass er sich nicht mit ihrem Bruder treffen durfte. Kassandras Familie ist inzwischen aus Neviges weggezogen. Holger Boden, erfahrener Fachanwalt für Familienrecht: „Personen, die selbst oder in ihrem Umfeld ein dermaßen traumatisches Erlebnis hatten, haben schwere Last zu tragen.“
Der Fall Kassandra bleibt unvergessen
Ulrich Löhe, Vater von zwei Kindern, werde den Fall Kassandra „mein Leben lang nicht vergessen.“ Er habe ihm ein Mal mehr gezeigt: Man müsse dankbar sein, wenn es den Kindern gut gehe und diese Zeit bewusst genießen. Christo, Kassandras Lebensretter, verbringt mit 14 Jahren seinen wohl verdienten Altersruhesitz im Westerwald, dem neuen Wohnsitz seiner Hundeführerin Birgit Oschmann.