Neviges. Das rätselhafte Verschwinden der neunjährigen Kassandra S., die Montagnacht mit schwersten Verletzungen aus einem Kanalschacht geborgen wurde, gibt der Polizei Rätsel auf. Die Beamten ermitteln mit Hochdruck, bislang aber noch ohne konkrete Ergebnisse.
Dieser Fall beschäftigt ganz Deutschland: Unter einem riesigen Medien-Aufgebot hat die Staatsanwaltschaft Wuppertal am Mittwoch eine Pressekonferenz abgehalten, in der erstmals Einzelheiten zur unbegreiflichen Gewalttat an der neunjährigen Kassandra S. bekannt gegeben wurden. Allein: Was mit dem Mädchen am Montagabend nach 17.30 Uhr genau geschah, ehe es nachts von der Polizei mit schwersten Verletzungen aus einem Kanalschacht gerettet wurde, bleibt nach wie vor ein Rätsel.
„Dieses Verbrechen hat uns auf eine Art und Weise erschreckt, wie es bei uns vermutlich noch nie vorgekommen ist”, sagt Wolfgang Siegmund, Leiter der Mordkommission. Das Opfer sei zwar außer Lebensgefahr, befinde sich aber weiterhin im Koma, so dass es nicht vernommen werden kann. An Meldungen, dass sich der Gesundheitszustand des Mädchens dramatisch verschlechtert habe, sei hingegen nichts dran.
Ein Klacken an der Tür
Die gruseligen Ereignisse jenes Montagabends lassen sich bislang nur bruchstückhaft zusammen puzzeln. Nach dem Spielenachmittag im „Treff 51” sei Kassandra um 17.50 Uhr aus der Einrichtung verschwunden, ein „Klacken an der Tür” habe den Betreuern das Verschwinden des Mädchens signalisiert. Ob es allein ging oder abgeholt wurde – alles unklar. Ab dann verliert sich Kassandras Spur.
Die Polizei geht davon aus, dass die Neunjährige in unmittelbarer Nähe der Turnhalle, hinter der sie später so übel zugerichtet gefunden wurde, mit dem Täter in Kontakt geraten sein muss. „Wir glauben auch, dass der Täter gute Ortskenntnisse haben muss”, meint Wolfgang Siegmund. Als die Hundestaffel gegen 1.20 Uhr das Gelände absuchte, sei „ein leichtes Wimmern” aus dem geschlossenen Kanalschacht zu vernehmen gewesen, auch Suchhund Christo habe unruhig reagiert. In einer Tiefe von 1,50 Meter habe man dann das schwer verletzte Mädchen orten können: völlig durchnässt, aber vollständig bekleidet. Auf ein Sexualdelikt gebe es keine Hinweise. Das Mädchen war weder gefesselt noch geknebelt und habe nur leichte Lebenszeichen von sich gegeben.
Auf matschigem Boden
Der schwere Regen am Montagabend setzte den Beteiligten zusätzlich zu: „Wenn wir Kassandra nicht so schnell gefunden hätten, dann hätte sie im Kanalschacht durchaus auch ertrinken können”, sagt Siegmund. Der Einsatz des Rettungstrupps auf dem matschigen Boden habe allerdings auch zur Folge gehabt, dass der Tatort kriminaltechnisch kaum noch wertvolle Hinweise auf den Täter liefere. „Für uns ist der Tatort kaputt”, so Siegmund. Eine Untersuchung möglicher DNA-Spuren dauere noch an.
Vieles in diesem Fall bleibt vage. Und entsprechend kräftig blühen die Spekulationen. Ob ein Täter alleine einen 30 bis 40 Kilo schweren Kanaldeckel ohne Spezialwerkzeug überhaupt heben könne, ist bereits bezweifelt worden. Doch glaubt die Polizei durchaus, dass ein kräftiger Mann dies schaffen kann. Ob Kassandra S. im Schacht mit Steinen bedeckt gefunden worden ist – das mag die Polizei nicht preis geben.
Gerüchteküche brodelt
Derweil brodelt in Neviges die Gerüchteküche. „Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Unruhe in der Bevölkerung groß ist”, meint der leitende Polizeidirektor Ulrich Koch. „Und die Sorgen werden anhalten.” Gegen einen vorschnell als verdächtig geltenden Jugendlichen läge kein Tatverdacht vor. Mit einem Busfahrer, der vor einem halben Jahr am S-Bahnhof einen Unbekannten dabei beobachtet haben will, der versucht habe, Kinder in sein Auto zu locken, werde gesprochen.
Die Familie des Mädchens wird weiterhin vom Opferschutz betreut. „Die Eltern sind völlig fertig”, sagt Wolfgang Siegmund. „Sie wissen nicht, wie es weiter gehen soll.” Jetzt wartet alles darauf, dass Kassandra selbst Angaben zum Tathergang machen kann. Und Siegmund fügt mit bedrückter Stimme an: „Hoffentlich war sie am Montagabend lang genug bewusstlos, dass sie dieses Martyrium nicht miterlebt hat.”