Velbert. Nach dem Tötungsversuch an der neunjährigen Kassandra in einem Kanalschacht stochert die Polizei noch im Dunkeln. Die Beamten ermitteln mit Hochdruck, bislang aber noch ohne konkrete Ergebnisse. Die Menschen in Neviges sind unterdessen besorgt und verunsichert.
Hörensagen streift durch die Straßen, Gerüchte dringen in Häuser ein. Es ist die Zeit von Gemurmel und Gemunkel: Von unbekannten Männern will man wissen, die schon vor Wochen in Velbert-Neviges auf Schulhöfe gestarrt hätten; von Fremden, die Kinder in Autos zu locken versuchten, bestimmt, ein Busfahrer hat's doch gesehen; und dieser oder jener Einheimische, benimmt der sich nicht seltsam plötzlich?
Zwei Tage nach dem unfasslichen Angriff auf die kleine Kassandra (9) hat das Gerede Neviges im Griff; und Sorge und Unruhe sowieso. Zwei Mütter treffen sich in der Nähe des Tatorts, um ihre Kinder von der Schule abzuholen: „Wie geht's Dir?” – „Weiß nicht.”
So viel Polizei! Blaue Uniformen stehen vor Fachwerkhäusern, grünbraune Streifenwagen patrouillieren vor Schieferfassaden. Denn „in Neviges brennt die Luft”, sagt der Leitende Polizeidirektor Ulrich Koch in der Kreisstadt Mettmann.
Fundort ist ,kriminaltechnisch kaputt'
An diesem Mittwochnachmittag kann die Polizei noch nichts dagegen tun: Sie hat bisher keinen Verdacht, keinen Täter, kein Motiv und keinen Tatort; und wegen der vielen Menschen, die nach Kassandra suchen halfen in der Nacht, ist selbst die Umgebung des Fundortes „kriminaltechnisch kaputt”, so Wolfgang Siegmund, der Leiter der Mordkommission.
Herr Siegmund, erwägen Sie einen DNA-Massentest für alle Männer aus Neviges? „Da müsste ich erst was zum Vergleichen haben”, antwortet er. Nein, die Polizei hat bisher nur ein am Bauch, am Kopf und an den inneren Organen sehr schwer verletztes Mädchen im künstlichen Koma, das sich vielleicht später einmal erinnern kann.
Kassandra, dies nun steht fest, war nach halb sechs am Montagabend allein mit drei Betreuern im Offenen Spielenachmittag; gegen 17.50 Uhr soll sie gegangen sein, denn einer hörte wohl die Türe klappern.
Auf dem Parkplatz davor, so die Hypothese, sei sie angesprochen worden; und dass der Täter nach seinem Gewaltausbruch sie in den Kanalschacht ums Eck stopfte, gilt als Indiz für Ortskenntnis.
Wie Siegmund Kassandras Lage dort beschreibt, ist kaum zu ertragen, 1,50 Meter unter der Erde, unter einem 30 bis 40 Kilo schweren, absichtlich wieder aufgelegten Kanaldeckel: Sie war „unterkühlt ... nicht ansprechbar ... es regnete stark in der Nacht, das Wasser war schon gestiegen, sie hätte dort ertrinken können ... ich hoffe, sie war längere Zeit bewusstlos.” Auf ein Sexualdelikt gibt es bisher keinen Hinweis, das wenigstens.
Polizeiabsperrung noch in Kraft
Doch zurück nach Neviges. Am Fundort ist das Landeskriminalamt vorgefahren mit zwei Kastenwagen voller Technik, das rot-weiße Flatterband ist noch in Kraft: „Polizeiabsperrung” – mag sein, es findet sich ja doch noch etwas.
Und Eltern fragen sich, was sie machen können, um Himmels Willen. „Grundsätzlich wäre zur Schule begleiten ein guter Rat”, sagt Koch dazu, der Polizeidirektor. In den Schulen, aber auch in den Familien pauken sie das ABC der Sicherheit des kleinen Kindes: Geh nicht mit Fremden! Steig in kein Auto! Nimm meine Hand!
Von Normalität weit entfernt ist die städtische katholische Grundschule Ansembourgallee dabei noch, deren Offene Nachmittagsbetreuung Kassandra besuchte. An schulische Aufarbeitung sei derzeit nicht zu denken, sagt die Schulleiterin Christa Schreven: „Das Thema kann im didaktischen Bereich noch keine Rolle spielen, solange der oder die Täter nicht gefasst sind und die Gerüchteküche brodelt.”
Da hat Pater Damian vom Franziskanerorden einige Grundschüler mitgenommen in den Mariendom von Neviges. Sie haben dort Kerzen angezündet und gebetet.