Oberhausen. Kein anderes Viertel schneidet im Stadtteil-Check so mies ab wie die Innenstadt. Das Sorgenkind braucht Hilfe, um sich wieder selbst zu lieben.
Dreckig, gefährlich, hässlich, heruntergekommen. Schau’ ich mir Kommentare meiner Mitmenschen in den sozialen Medien an und lese ich so manche Zuschrift unserer Leser, bekomme ich den Eindruck, die Innenstadt sei das Ghetto von Oberhausen. Versiffte Drogendealer-Ecken, verwaiste Einkaufsstraße, Armut. „Das reinste Dreckloch hier“, raunzte mir neulich jemand zu. Dieses „Dreckloch“ ist seit kurzem mein neues Zuhause.
Seit Anfang April wohne ich in der Innenstadt. Ich bin nicht nur freiwillig hergezogen, sondern überaus gerne! Ich bin mittendrin; mehr Oberhausen geht nicht. Dass viele Oberhausener das anders sehen, lieber heute als morgen wegziehen würden, zeigen nicht nur Kommentare bei Facebook und Co., sondern auch das Ergebnis des großen Stadtteil-Checks unserer Redaktion. Kein anderer Stadtteil wurde so schlecht bewertet wie die Innenstadt. Nirgendwo sonst leben die Menschen so ungern in ihrem Viertel wie hier.
Altmarkt verdient einen besseren Wochenmarkt
Viele meiner neuen Nachbarn fühlen sich offensichtlich hier nicht wohl, wie man aus unserer großen Stadtteil-Umfrage lesen kann. Sie vermissen das Gemeinschaftsgefühl, kritisieren die Parkplatzsituation, halten nichts von Politikern, fühlen sich unsicher, vermissen Freizeitangebote für sich und ihre Kinder, sehen die Alten hier nicht gut aufgehoben.
Bei allem Verständnis vermisse auch ich etwas: den Blick auf die tollen Seiten der Innenstadt. Oberhausen hat einen wunderschönen Altmarkt, der einen viel besseren und größeren Wochenmarkt zum Einkaufen verdient hätte. Auf das neue Jobcenter mit innovativem Dachgarten kann Oberhausen stolz sein. Das Gdanska füllt den Platz mit Leben.
Umfrage ergibt ein gutes Stimmungsbild
Die Umfragen „Stadtteil-Check“ liefern ausdrücklich keine repräsentativen Ergebnisse, weil die Teilnehmer nicht gezielt nach sozio-demografischen Merkmalen ausgewählt wurden, sondern selbst nach Aufrufen über ihre Teilnahme entschieden haben. Die Umfrage-Resultate geben die subjektive Meinung wieder.
Aber: „Der Stadtteilcheck liefert wegen der sehr großen Beteiligung ein gutes Stimmungsbild“, sagt Dr. Ana Moya, die für die Auswertung zuständige Statistik-Expertin. „Es wurde darauf geachtet, dass in jedem Stadtteil eine ausreichende Teilnehmerzahl erreicht wurde.“
Die berücksichtigten Teilnehmerzahlen reichen von 50 (Brücktorviertel) bis 337 (Alstaden). Eine Ausnahme bilden Vondern und Vonderort. Dort hatten zu wenige Leser (16 und 5) teilgenommen, gleichwohl geben wir die Benotungen in den Übersichten der Vollständigkeit halber an. Die Umfrage fand im Februar 2020 statt – die Auswertung wurde wegen der Corona-Pandemie auf das zweite Halbjahr 2020 verschoben.
Beim Gang über die Marktstraße empfehle ich den Blick nach oben – schöne Fassaden gibt es auch in Oberhausen. Und neulich ist es mir doch tatsächlich passiert: Glaubt man den Kritikern, ist es schier unmöglich, aber nach dem Besuch beim Optiker bin ich doch tatsächlich vor einem Schaufenster stehengeblieben. Zu der neuen Sonnenbrille gesellten sich schnell neue Schuhe, im nächsten Geschäft kaufte ich Kerzen und eine Geburtstagskarte, es folgten ein neuer Blumentopf, handgemachte Ohrringe, ein Kinderbuch – und eine schwere Entscheidung: Zum Schluss noch ein Spaghetti-Eis mit Amarena-Kirschen oder Spinatkuchen in der weltbesten Espressobar an der Lothringer Straße?
Zu Fuß ins Theaterviertel
Die zweite weltbeste Espressobar gibt es übrigens im Theaterviertel, in das ich problemlos zu Fuß laufen kann. Theater, Kino, Kleinkunstbühne mit Biergarten, Zentrum Altenberg: Ich hab’s nie weit. Die Liste an positiven Dingen könnte ich weiterführen, doch weiß ich auch, dass ich dadurch einige Gemüter weiter erhitze. Diskutiere ich mit anderen Menschen über die Innenstadt, wird es manchmal sogar beleidigend. Weil ich angeblich nicht weiß, wie das Leben hier wirklich ist. „Vielleicht merkst du es ja, wenn du das erste Mal überfallen wirst.“
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Dabei verschließe ich keineswegs meine Augen vor der Realität. Dass am Saporishja-Platz und in Parks das ein oder andere Tütchen mit Marihuana heimlich den Besitzer wechselt, riecht man drei Meter gegen den Wind. Es liegt Müll in den einschlägigen Dreckecken und eine erfolgreiche Shoppingtour macht aus der Marktstraße noch lange keine Königsallee. Wer aber wirklich hinsieht, erkennt auch, dass sich was tut: Die Polizei zeigt Präsenz, bald auch mit einem weiteren Standort an der Marktstraße, Reinigungswagen sind auf der Marktstraße unterwegs.
Sorgenkinder brauchen Verständnis und Liebe
Sorgen machen mir aber in der Tat die sozialen Probleme der Innenstadt. Der Anteil der Hartz IV-Empfänger an der Gesamtbevölkerung ist mit mehr als 36 Prozent in keinem anderen Stadtteil so hoch wie hier. Gleiches gilt für den Anteil der Alleinerziehenden. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt bei über 55 Prozent, was die ohnehin schwierige Aufgabe der Integration ungemein erschwert. Und, es bricht einem das Herz, in der Innenstadt leben unerträglich viele arme Kinder. Der Anteil der Hilfeempfänger unter 15 Jahren liegt bei 56 Prozent. Zum Vergleich: In Walsumermark sind es gerade einmal 3,5 Prozent.
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Ja, die Innenstadt ist das Sorgenkind von Oberhausen. Aber wie geht man um mit Sorgenkindern? Man schimpft und zetert weniger und begegnet ihnen mit Verständnis. Man bestärkt das Gute und hilft bei Problemen. Die Innenstadt braucht Hilfe. Die sozialen Unterschiede zu anderen Stadtteilen vor allem im Norden sind zu groß, als dass sich die Menschen hier verstanden und wertgeschätzt fühlen. Doch genau das braucht ein Sorgenkind, will es sich irgendwann wieder selbst lieben.
Alle Stadtteil-Zeugnisse unserer großen Umfrage lesen Sie hier.