Oberhausen. .

Wir sind umgezogen. Die Jalousien sind unten. „Hilfe, Mama, ich finde die Tür nicht“, schreit unser Sohn aus der Dunkelheit. Ich springe aus dem Bett, renne los und stoße gegen die Wand. Erst mal Licht anmachen. Wenn Birgitt das Licht anmacht, bleibt es dunkel. Sie besitzt nur noch ein Sehvermögen von einem Prozent.

Aber sie hat gelernt, sich zurecht zu finden: in ihrer Wohnung und im Alltag.

Mit elf Jahren bemerkte Birgitt zum ersten Mal: „Ich erkenne die Schrift an der Tafel nicht richtig.“ Der Augenarzt war ratlos, verschrieb ihr eine Brille mit Fensterglas. „Der dachte wohl, ich simuliere.“ Erst nach umfangreichen Untersuchungen in den Augenkliniken Köln und Mülheim stand fest: „Ich habe Retinitis pigmentosa, das ist eine Augenkrankheit, bei der es langfristig durch eine Zerstörung der Photorezeptoren zu einer Netzhautdegeneration kommt.“ Mit Nachtblindheit ging es weiter, nach und nach verschwand auch das Farbensehen.

Der Gehweg ist gespickt mit Hundekot

Weil sie in der Realschule nicht mehr mitkam („Ich konnte ja keine Bücher mehr lesen“) schickten die Eltern sie auf eine Schule für Sehbehinderte in Duisburg. Dort blieb sie bis zur neunten Klasse. „Ich wollte so gerne das Abitur machen, aber meine Eltern glaubten, es wäre besser, ich würde eine Ausbildung abschließen.“ Sie seien mit der Situation wohl überfordert gewesen, meint die 48-Jährige rückblickend. „Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ich überhaupt eine Zukunft habe.“

Aber Birgitt glaubte an sich – und ging ihren Weg. Blind und hilflos? Das wollte sie nie sein. Sie schnappt sich ihren Langstock und geht zielstrebig zur Tür. Sie will zur Bushaltestelle. Klock, klock, die Kugel am Ende des Stockes gleitet über den Bürgersteig, klopft prüfend gegen Hauswände, Garagentore, Hecken („darin bleibt der Stock gerne hängen“). So tastet sich Birgitt Schritt für Schritt vor. Hindernisse erkennt sie nicht immer sofort. Das Heck eines geparkten Autos blockiert unvermittelt den Gehweg. Ein paar Sekunden ist Birgitt ratlos, dann tastet sie sich vorsichtig darum herum. „Das ist blöd, weil ich dabei fast auf die Straße gerate“, stellt sie verärgert fest.

Weiter geht es. Der Gehweg ist gespickt mit Hundekot. „Da habe ich keine Chance, das merke ich erst, wenn ich drin stehe.“ Unzählige Male musste sie schon umkehren, zu Hause erst Stock und Schuhe reinigen.

Im gesamten Ort gibt es keine Blindenampeln

Zu gerne würde sie zum Arztbesuch nach Schmachtendorf. „Rund um den Marktplatz gibt es dort viele verschiedene Praxen, Apotheken, aber auch Geschäfte, da hätte ich alles prima in der Nähe“, erzählt Birgitt. Doch leider hat die Sache gleich mehrere Haken: In den Aufzügen zu den Arztpraxen fehlten Lautsprecherdurchsagen für die jeweilige Etage.

„Außerdem gibt es in ganz Schmachtendorf nicht eine Blindenampel. Beim Versuch, die Straße zu überqueren, wäre ich dort fast einmal überfahren worden.“ Und dann auch noch dies: „Die Bürgersteige sind an vielen Stellen abgesenkt, damit sind sie für mich nicht mehr tastbar und ich gerate schnell, ohne es zu merken, auf die Fahrbahn.“

Gefährlicher Hindernisparcours 

Für Sehbehinderte glichen die Gehwege eher einem Hindernisparcours: „Die Cafés haben im Sommer ihre Stühle draußen, die Geschäfte ihre Kleiderständer, dazu kommen Telefonzellen, rausgestellte Mülltonnen.“ Birgitt wünscht sich für den Ort eine so genannte Leitlinie, die das Ende oder den Anfang eines Bordsteines markiert und an Hindernissen vorbeiführt. „Das wäre für Sehbehinderte eine gute Orientierung.“

So wie am Hauptbahnhof: „Dort gibt es diese Leitlinien bereits – das sind diese kleinen geriffelten Striche auf der Erde – die zur Information und zu den Ein- und Ausgängen führen.“ Aber schon die Ausstattung der Marktstraße lasse wieder zu wünschen übrig: Auch dort existiert nur eine Blindenampel, immerhin befinden sich aber an den Bushaltestellen Leitlinien.“

Leider fehlten dafür an sämtlichen Busknotenpunkten Lautsprecherdurchsagen, bedauert Birgitt. Da könne man als Sehbehinderter schnell in der falschen Linie landen. „Ich frage deshalb immer nach.“

Sehbehinderte bleiben viel zu oft in den eigenen vier Wänden

Schüchtern sollte man als blinder Mensch besser nicht sein. „Es gibt viele Situationen, in denen ich trotz aller technischen Fortschritte auf fremde Hilfe angewiesen bin.“ Bislang habe sie dabei aber meist positive Erfahrungen gemacht.

Sie meint dennoch: „Es könnte in unserer Stadt mehr für Sehbehinderte getan werden.“ Damit die rund 500 Betroffenen am öffentlichen Leben teilnehmen können und nicht – „wie leider noch viel zu oft“ – einfach in den eigenen vier Wänden verschwinden.

Dass die Stoag ihren Begleit-Service einstellt , habe gerade vor diesem Hintergrund viele hart getroffen. „Die meisten erhalten ja nur kleine Renten und können sich kein Taxi leisten.“

Birgitt kämpfte schon immer um ihre Zukunft. Sie wollte so normal wie möglich leben, war Mitglied im Motorradclub „Black Cobra“ („als Beifahrerin natürlich“). Dort lernte sie mit 15-Jahren ihren späteren Mann kennen.

Arbeitsamt lehnte Umschulung ab 

Bei der Stadt ließ sie sich zur Verwaltungsfachangestellten ausbilden. Zehn Jahre lang war sie in der Urkundenstelle des Standesamtes tätig. 1988 kam ihre Tochter Jenni zur Welt. Doch die Sehbehinderung schritt unaufhaltsam fort. „Ich musste meine Arbeit aufgeben, eine Umschulung lehnte das damalige Arbeitsamt ab.“ Das würde keinen Sinn machen, sie wäre nicht mobil genug. Wenn Birgitt daran denkt, wird sie heute noch wütend. „Es gibt zu wenig Stellen für sehbehinderte Menschen, auch in unserer Verwaltung ist das noch so.“

Notgedrungen beschränkte sie sich auf Haushalt und Kindererziehung. „Zu Hause kannte ich meine Wege, ich mähte sogar den Rasen und reinigte die Dachrinne.“ Die Familie und ein paar Freunde waren der einzige Kontakt zur Außenwelt. Als ihr Mann sich nach 28 Jahren von ihr trennte, brach für sie eine Welt zusammen. „Für jeden Schritt vor die Tür benötigte ich bis dahin eine Begleitung.“ Sollte ihr Leben so sein, so bleiben?

Birgitt entschied sich für einen anderen Weg. „Vor allem, weil ich meine Tochter nicht belasten wollte, sie sollte ihr eigenes Leben leben dürfen.“

Klebezettel und Einkaufsfüchse

Also nahm sie Kontakt zum Oberhausener Blinden- und Sehbehindertenverein auf (Tel. 0208/7780288). „Seitdem geht es für mich permanent bergauf“, freut sie sich. Zum ersten Mal erhielt sie Informationen über Hilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte. „Ich machte ein Mobilitätstraining und lernte, mich mit dem Langstock zurechtzufinden. Alle wichtigen Wege trainierte sie mit einem Begleiter vom Blindenverband ein.

Jedes Hindernis prägte sie sich dabei ein. Wo endet der Bürgersteig? Wie finde ich zurück, wenn ich in einem Garagenhof gelandet bin? Wie überquere ich eine Straße? Woran erkenne ich die Bushaltestelle? Birgitt half, dass sie nicht von einem Tag auf den anderen erblindete. Hell und Dunkel erkennt sie auch heute noch.

Sie zog aus dem gemeinsam mit ihrem Mann gebauten Eigenheim in eine Mietwohnung, packte die Kartons mit Hilfe von „sprechenden Klebezetteln“. „Darauf hielt ich fest, was darin ist.“ Denn Ordnung ist für blinde Menschen überlebenswichtig. „Trotzdem verbringe ich zwei Drittel meiner Zeit damit, irgendetwas zu suchen.“

Sie beschaffte sich einen „Einkaufsfuchs“, mit dem sie im Laden die Ware scannen kann. „Das Gerät liest mir vor, was ich in der Hand halte.“ Dank eines anderen Vorlesegerätes erfährt sie die Inhalte von Briefen oder Illustrierten. Jetzt will sie sich noch in Sachen Internet fit machen lassen.

„Endlich wieder ein Stück Lebensqualität“, freut sie sich. Selbstbewusst besucht Birgitt heute wieder Theateraufführungen, geht ins Kino. „Das habe ich nur den Mitgliedern meines Vereins zu verdanken.“ Dort habe sie viel Unterstützung erfahren. Und die will sie jetzt weitergeben – als neue Mitgliederbetreuerin.