Nach dem Selbstmord einer 16-Jährigen fordern Experten Umdenken. Die psychiatrische Akutversorgung von Jugendlichen sei in Oberhausen verbesserungswürdig. Sie fordern außerdem dringend eine Kinder- und Jugendpsychatrie in Oberhausen.

Leicht war ihr Leben von Anfang an nicht. Aber mit der Zeit wurde es so schwer, dass Nicole (Name geändert) es nicht mehr aushalten konnte. Mit nur 16 Jahren nahm sie sich vergangene Woche in Osterfeld das Leben. Zuletzt war das Mädchen in der „Löwenzahn“-Notschlafstelle für Jugendliche untergebracht. Die, die Nicole dort betreut haben, bleiben mit Trauer, Ohnmacht und Zorn zurück. Zorn, weil sie die Selbstmordgefährdung des Mädchens befürchtet hatten und erleben mussten, dass es manchmal an Strukturen liegt, dass Jugendliche in akuten Krisensituationen nicht die Hilfe erfahren, die sie bräuchten. „Da muss sich was ändern“, sagt Oded Brill, Geschäftsführer des Vereins „Löwenzahn Betreutes Wohnen“. Die psychiatrische Akutversorgung von jungen Menschen sei in Oberhausen durchaus verbesserungswürdig, erklärt er.

Nicoles „finale Verzweiflungstat“, wie ihr Bezugsbetreuer Rainer Große-Erwig es formuliert, habe eine lange Vorgeschichte gehabt: Eltern, die mit der Erziehung ihrer drei Kinder komplett überfordert waren, Vernachlässigung, Gewalterfahrung. Schon als Fünfjährige habe das Jugendamt das Kind aus der Familie nehmen müssen. In der Pflegefamilie war man irgendwann überfordert mit dem Mädchen, das ein immer schwierigeres Verhalten zeigte.

Persönlichkeitsstörung

Es folgte eine Pflegefamilie mit pädagogisch entsprechend ausgebildeten Eltern – aber auch die kamen an ihre Grenzen. Drogen, Alkohol, Schuleschwänzen, die Aufsässigkeit einer Pubertierenden. Nächste Station: Heim. Auch da behielt man Nicole nicht lange, sie arbeitete nicht mit. Schließlich wird sie vom Jugendamt bei „Löwenzahn“ untergebracht. Dort findet das Mädchen, bei dem die Persönlichkeitsstörung „Borderline“ diagnostizieret wurde, nicht nur eine Schlafstelle, sondern auch Betreuer, die die seelische Not des Mädchens erkennen, das dazu neigt, sich selbst zu verletzen und durch abstruse Geschichten Aufmerksamkeit zu erregen. „Sie hatte eine sehr auffällige emotionale Bedürftigkeit“, sagt Brill. „Eine abgrundtiefe menschliche Verzweiflung“ sei spürbar gewesen, sagt Große-Erwig. Die Hilfeschreie der Seele wurden immer lauter: Kurz vor Weihnachten habe sie einen nächtlichen Angriff auf sich selbst vorgetäuscht, habe sich mehrfach selbst verletzt. „Ab dem Zeitpunkt war klar: Das ist ein Hilferuf“, sagt Große-Erwig.

Einweisung in eine geschlossene Einrichtung beantragt

Gemeinsam mit Jugendamt und Vormund des Mädchens habe man bei Gericht die Einweisung in eine geschlossene Einrichtung beantragt. Aber die dauert: „Die Unterbringung hat eine große Anlaufzeit, zumindest dann, wenn es noch keine gesicherte Diagnose gibt“, sagt Brill. „Vormund, Jugendamt, der Jugendliche selbst – alle müssen vom Richter gehört werden. Was ja auch richtig ist. Schließlich ist sowas kein Klacks.“

Im Fall von Nicole habe es mehrfach kurze stationäre Aufenthalte in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen gegeben: „In Oberhausen selbst gibt es dafür in keinem Krankenhaus einen Platz“, so Große-Erwig. Freiwillig habe sich das Mädchen dann in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Essen aufnehmen lassen, brach die Behandlung aber nach zwei Wochen ab und landete Ende Februar wieder in der Notschlafstelle – in desolatem psychischen Zustand, wie die Betreuer erklären. Alle versuchen nochmal, die Einweisung zu forcieren: Doch ohne fachärztliche Stellungnahme der Klinik gibt’s keinen Beschluss. Und der Bericht der Klinik habe trotz mehrfacher dringlicher Anmahnung auf sich warten lassen. Am Tag nach der Verzweiflungstat sei er eingegangen: „Es bestehe keine Selbst- oder Fremdgefährdung heißt es darin“, sagt Brill.

Keine stationäre Behandlungsmöglichkeit in Oberhausen

Für Nicole hätte es also vermutlich auch dann keine Einweisung gegeben: „Dabei wäre das eine Chance gewesen. Das macht einen zornig und traurig“, so Brill. „Man kann nicht verhindern, dass solche Tragödien passieren, aber man kann versuchen, die Risiken zu minimieren“, sagt er. Konkret kritisiert er, dass es an keinem Oberhausener Krankenhaus eine Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt: „Man muss mit Jugendlichen in akuten Krisen 70 Kilometer bis nach Viersen fahren. Das ist schwierig bis gefährlich.“ In anderen Städten, Dinslaken etwa, habe man stationäre Plätze geschaffen.

Problematisch sei auch die Versorgung am Wochenende: „Der sozialpsychiatrische Dienst der Stadt müsste dann mit einem Facharzt besetzt sein. Denn nur der kann die rechtsgültige Diagnose für eine Einweisung stellen.“