Oberhausen. Ende März schloss das Niederrheinkolleg nach 70 Jahren offiziell seine Türen. Doch in den Wohnheimen leben noch sechs Menschen. Was sie erleben.
Der Pizza-Bote steht ratlos vor dem verschlossenen Tor. Es gibt keine Klingel, niemand ist zu sehen. Er holt sein Handy raus und wartet. Was anderes bleibt ihm nicht übrig, denn in der Adresse hat er sich nicht getäuscht. Hier leben Menschen, auch wenn das Niederrheinkolleg seit zwei Monaten dicht ist.
Nach 70 Jahren endete Ende März eine Bildungsära in Oberhausen. An der Fassade des Niederrheinkollegs zur Wehrstraße hängt noch das Motto der Schule: „Abitur für Erwachsene“. Zig Studierende holten in den sieben Jahrzehnten die Hochschulreife nach. Am Ende wurden es aber immer weniger, so dass sich die Landesregierung gezwungen sah, die Oberhausener Einrichtung zu schließen. Wie es weitergeht, weiß gerade niemand.
Auch Johannes Vockinger und Stefan Haas nicht. Sie wissen nur: Am 31. Juli läuft ihr Mietvertrag aus. Sie sind zwei der sechs letzten Studierenden, die noch in den Wohnheimen des Niederrheinkollegs leben. Und im Gegensatz zum Pizza-Boten haben Sie einen Schlüssel für das Tor, um uns hineinzulassen.
Verlassenes Niederrheinkolleg: Der Rasen ist gemäht, der Grill steht
Die Wohnheime sind halbkreisförmig um den zentralen Platz angeordnet. Der Hausmeister hat gerade frisch die Wiese gemäht, der Wind raschelt durch die Blätter der ordentlichen Bäume. „Der Hausmeister liebt Rasenmähen“, sagt Stefan Haas. In der Mitte stehen ein paar verankerte Bänke um durchgerosteten Grill. Der Innenhof sieht so aus, als ob gleich heute ein kleines Sommerfest stattfinden könnte. Wird es aber nicht. „Hier war schon lange nicht mehr viel los“, sagt Stefan Haas.
Früher schon. Früher muss dieser Ort ein lebenslustiger inspirierender gewesen sein. Bei einer der letzten Veranstaltungen am Niederrheinkolleg erzählte ein ehemaliger Schüler in blumigen Worten von hitzigen Debatten nach Unterrichtsschluss, von Partys in der Aula, von einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig stützte. Man kann es sich leicht vorstellen, wenn man auf der Platzmitte steht: Man traf sich abends bei einem Bier, quatschte, fachsimpelte, und ging spät ins Bett.
Die einzigen Menschen, die sich jetzt noch im Niederrheinkolleg verabreden könnten, sind die sechs Studierenden, die Hausmeister, die Reinigungskräfte und die kommissarische Schulleiterin Kirsten Manfraß. Sie kümmert sich bis zu den Sommerferien um die Abwicklung der Schule. „Ich finde das schon sehr schade“, sagt Johannes Vockinger auf seinem Balkon.
Niederrheinkolleg: Studierende pendeln täglich nach Düsseldorf
In seinem Wohnheim wohnt noch ein anderer Mitbewohner, „aber der ist kaum da“. Deshalb hat der angehende Abiturient das Gebäude fast für sich alleine. Eine schmale Treppe führt zu den Zimmern und zur Gemeinschaftsküche. Die Decke ist schräg geschnitten, weshalb Johannes Vockinger den Kopf einziehen muss, wenn er zum Kühlschrank will. Im Flur hat er ein paar Sachen abgestellt, ein großer Stock lehnt an einer Wand, den er mal gefunden hat. Die Sachen stören hier niemanden, weil ja auch kaum noch jemand da ist. „Ich lebe eigentlich gerne in WG’s und habe Menschen um mich herum“.
Als Johannes Vockinger nach Oberhausen kam, war er guter Dinge, eine interessante Zeit zu haben. Der 28-Jährige stimmt aus einem bayrischen Dorf mit 200 Einwohner, entschied sich, nach der Schule zu reisen, um die Welt kennenzulernen. Er hat kein Problem mit der Ferne, deshalb war der Umzug nach Oberhausen kein Problem. „Ich habe mich wegen der Wohnheime bewusst dafür entschieden“. Die Miete ist mit 170 Euro im Monat sehr günstig.
In den Wohnheimen kann man sich nicht aus dem Weg dauerhaft aus dem Weg gehen, es gibt nur Gemeinschaftstoiletten. Man sieht den Gebäuden ihre Jahre an, die Fenster sind dünn und zugig. Im Sommer wird es sehr heiß, berichtet Johannes Vockinger. Trotzdem sieht es gemütlich aus. Wenn er aus seinem viereckigen Zimmer auf den Balkon tritt, hat er den Blick frei auf den zentralen Platz mit dem Grill und die anderen Wohnheime. „Abends, wenn es still ist, kann man die Autobahn hören“, sagt Johannes Vockinger.
Als er sich anmeldete, wusste er nicht, dass das Niederrheinkolleg schließen würde, sagt Johannes Vockinger. Seit Februar 2022 pendeln er und Stefan Haas täglich nach Düsseldorf, um am dortigen Kolleg ihr Abitur zu beenden. Am 31. Juli muss Johannes Vockinger seine Koffer packen und für das letzte Semester umziehen. „Ich hätte es gut gefunden, wenn sie an die Menschen gedacht hätten, die hier noch studieren“, sagt der 28-Jährige. Stefan Haas hat schon eine Wohnung gefunden, er macht sein Abitur erst im Sommer. Er wäre gerne hiergeblieben. „Ich kann nicht glauben, dass ich für das Geld ein ganzes Haus habe.“
Niederrheinkolleg: Platz für Schüler oder für Geflüchtete
Die beiden können nicht begreifen, warum die Anmeldezahlen derart sanken. „Es ist doch eigentlich ziemlich ideal hier“, sagt Stefan Haas und schaut zu dem Gebäude mit der Aula und den naturwissenschaftlichen Räumen rüber. Er will Informatik studieren, entschied sich deshalb dafür, dass Abitur am Kolleg nachzuholen und zeigt sich als Bayer aus einem kleinen Dorf beeindruckt vom Ruhrgebiet. „Man hat so viele Möglichkeiten hier.“
Die Stadtverwaltung war zunächst auch unschlüssig, was sie mit den Möglichkeiten machen will, die das Niederrheinkolleg bietet. Die Wohnheime könnten zu Flüchtlingsunterkünften umgebaut werden. Erstmal soll aber die Gesamtschule einziehen, bis der Neubau steht. Das Niederrheinkolleg bekommt also noch eine Chance. Zumindest das Gebäude.