Oberhausen. Großer Applaus im Theater Oberhausen für eine strenge Inszenierung, die ganz auf ihre Zeitzeuginnen setzt – und auf starke Schauspielerinnen.
Als der „Stern“, damals noch ein Meinungen prägendes Flaggschiff des Journalismus, im Juni 1971 den Titel „Wir haben abgetrieben!“ an die Kioske brachte, gehörten dazu neben Doppelporträts von Müttern und Kindern auch glamouröse Staraufnahmen – von Romy Schneider, Senta Berger oder Supermodel Veruschka von Lehndorff. Illustrierten-Glamour sollte man von der „Paragraf 218“-Uraufführung im Großen Haus des Theaters Oberhausen nicht erwarten. Doch Vieles war schon wie vor 52 Jahren.
Was anno 1971 als „engagiertes Theater“ firmierte, entspricht ziemlich genau der strengen Inszenierung von Julia Roesler für „Werkgruppe 2“. Ein karges Bühnenbild zu ärmlichen Kostümen: Die freien Theatermacherinnen setzen ganz auf die Kraft und Authentizität ihrer Quellen – und auf das große Können der vier Schauspielerinnen vom Oberhausener Ensemble. Ihre Sprechkunst trägt diese „Reportage auf der Bühne“, so die Selbstbeschreibung im Programmheft, derart überzeugend und bewegend, dass nach 100 Minuten fast alle Zuschauerinnen (und nicht wenige Zuschauer) stehend applaudieren.
Statuarisch, verhalten ist schon der grimmige Auftakt, der diese „kollektive Biografie von Frauen aus Oberhausen“ zurückführt ins Weltkriegsjahr 1944. Die NS-Justiz bedroht „gewerbsmäßige Abtreibung“ mit der Todesstrafe, und die 72-jährige Luise Crapohl muss um ihr Leben fürchten. Anna Polke und mit ihr Ronja Oppelt als die ebenfalls angeklagte junge Straßenbahnschaffnerin lassen die Angst und Verzweiflung selbst durch den nüchternen Ton der Gerichtsprotokolle hervordrängen. Das Schicksal der 1871 geborenen „Engelmacherin“ aus Sterkrade – seit 1916 sechsmal verurteilt, zweimal zu Gefängnisstrafen – wäre Stoff für ein eigenes Drama von Gerhart Hauptmann’scher Wucht.
Hin- und herfliegender Rap der aufrechten Seniorinnen
Danach herrscht Sprachlosigkeit. „Werkgruppe 2“ besteht darauf, die mit allen Holprigkeiten transkribierten Interviews ihrer Zeitzeuginnen „strikt wortwörtlich“ zu nutzen – und macht doch viel mehr aus den hilflosen Halbsätzen der inzwischen über 80-jährigen jungen Frauen der Adenauerzeit: Der hin- und herfliegende Rap der sehr aufrecht und adrett im Wartezimmer sitzenden Seniorinnen wird zu formvollendetem Gesang a cappella: „Was wollste machen? War halt ‘ne andere Zeit!“ Die alten Frauen, die beklagen „wie dumm man uns gehalten hat“, formulieren aber auch treffsicher die leitmotivische Sentenz des Abends: „Kinderkriegen ist keine Kunst, aber keine kriegen ist die Kunst“.
Einen Aufbruch aus dem Spielmodus nahe einer szenischen Lesung wagt die Inszenierung erst mit den aufmüpfigen Fünf aus Oberhausens erster Frauen-WG der frühen 1980er: Sie wechseln in den Sportdress, turnen und rennen mit ihrem Zorn auf eine noch immer bigotte und hasserfüllte Umgebung. „Du bist so fremdbelagert“ ächzt Anna Polke, die nun – echt jetzt – eine lila Latzhose trägt, und lässt mit komischem Grimm ihre Stimmungsschwankungen wüten: von „wie schrecklich, so’n Alien-Vieh in mir“ zum brabbelnden „Puschelpuschel“.
Dieser giftig-grelle Moment bleibt allerdings einmaliger Ausbruch einer doch sehr didaktischen Musiktheaters – obwohl mit Bassistin Ulla Oster alle auch mal die Mähnen fliegen lassen dürfen. Doch dann erzählt Regina Leenders von den 1992er West-Erfahrungen einer jungen DDR-Frau – und trägt dazu eine geradezu tatarische Fellmütze: Muss sich eine überzeugende Schauspielerin in derart verfilzte Klischees hüllen? Das Lied „Mein Körper“ wirkt ungleich eindringlicher als Solo-Spot für die Bühnenmusikerin, Komponistin und versierte Jazzsängerin Insa Rudolph: „Mein Körper ist im Widerstand / für die selbstbestimmte Wahl“.
Den einen Arzt – „gibt’s den noch?“
Es hätte der Schlussakkord des Abends sein können. Doch vom rechten Bühnenrand, vor der „privat“ überschriebenen Tür, spricht Susanne Burkhard den wohl erschütterndsten Text dieser „kollektiven Biografie“: Man mag kaum fassen, dass sie die Stimme ist für eine heute erst 35-jährige Frau, die nach einem Schwangerschaftsabbruch als 18-Jährige von ihrer Familie verstoßen wurde. Aus einem „streng katholischen Elternhaus“, das offensichtlich nur einen Gott zum Fürchten kannte. Als die Logopädin nach Jahren ihrem Vater schrieb, „möchtest du denn wenigstens mal deine beiden Enkelkinder kennenlernen“, kam als Antwort ein harsches Anwaltsschreiben, das ihr jeden weiteren Kontaktversuch untersagte.
Übrigens fällt in „Paragraf 218“ auch der Name des einen Arztes in Oberhausen, bei dem noch Schwangerschaftsabbrüche möglich sind – als Frage: „Den Schmeling – gibt’s den noch?“
Längere Pause bis zu den nächsten Aufführungen
Nach dem Premierenwochenende müssen sich erwartungsvolle Zuschauerinnen (und Zuschauer, versteht sich) etwas gedulden bis zu den nächsten Aufführungen von „Paragraf 218“: Sie folgen am 26., 28. und 30. April sowie am 3., 5. und 6. Mai im Großen Haus.
Karten gibt’s in vier Preisgruppen von 11 bis 23 Euro, erhältlich unter 0208 8578 184, per E-Mail an service@theater-oberhausen.de