Oberhausen. Hans Pleschinski las als Gast des Literaturhauses aus „Wiesenstein“, dem Roman über die letzten Tage des Nobelpreisträgers in seiner Luxusvilla.
Was bleibt vom Nobelpreisträger des Jahres 1912 – abgesehen von 4000 bundesdeutschen Gerhart-Hauptmann-Straßen und rund 400 Gerhart-Hauptmann-Schulen? Würden sich alle Pädagogen an diesen Lehranstalten für ihren Namenspatron interessieren: Hans Pleschinski könnte mit seinem Roman „Wiesenstein“ wohl eine Stadion-Tournee gestalten. Stattdessen war’s im AKA 103 ein kleiner Kreis, der einem superb gestalteten Vortrag des 65-jährigen Münchners applaudierte.
Dabei ist diesem Gast des Literaturhauses die von Hauptmann gepflegte große Form durchaus geläufig – darf Hans Pleschinski doch dank seiner Übersetzungen aus dem Französischen seit neun Jahren den Orden eines „Chevalier dans l’ordre des Arts et des Lettres“ tragen. „Damit hätte ich Anrecht auf ein Grab in Frankreich“, erklärte der Literat seinem Interviewpartner Rainer Piecha. Mit feindosierten Prisen Ironie war während dieser kurzweiligen zwei „Wiesenstein“-Stunden eben immer zu rechnen.
Und diese britisch anmutende Sicht auf den Zeitenbruch von 1945 passte angesichts des großliterarischen Themas. Denn der damals 81-jährige Gerhart Hauptmann führte in seinem schlesischen Luxus-Refugium noch im Untergang des „Dritten Reiches“ ein Leben, das jenem des britischen Adels in Serien wie „Downton Abbey“ kaum nachstand: Während im Tal die Flüchtlingstrecks verzweifelt versuchten, den Westen Deutschlands zu erreichen, empfing das Ehepaar Hauptmann, umgeben von vielen dienstbaren Geistern, zum Five O’Clock-Tea.
Stimmig bis zur Besetzung des Küchenpersonals
Für diesen bizarren Balanceakt zwischen Grauen und Wohlleben, gekonnt vorgetragen vom Romancier, bot die einstige Eckkneipe AKA 103 mit ihren halbhoch getäfelten Wänden sogar einen Hauch von jenem altweltlichen Flair, das Pleschinski in zahllosen Details zu beschwören wusste. Sein großer, 550 Seiten mächtiger Roman ist zu einem beachtlichen Teil verbürgte Biografie – stimmig bis zur Besetzung des Küchenpersonals und des Wiesenstein-Gärtners. Mehr noch: „Ausschnitte aus den jeweiligen Tagebüchern des Ehepaars Hauptmann sind hier erstmals veröffentlicht,“ heißt es im Epilog.
Einem derart privilegiert Recherchierenden geht es beim Thema Gerhart Hauptmann natürlich nicht nur um den Kontrast von Elend und herrschaftlichem Dünkel. In stets aufblitzenden Schlaglichtern beleuchtet Pleschinski auch die Frage nach der Verstrickung des einst sogar für das Amt des Reichspräsidenten gehandelten Hauptmann ins NS-Terrorregime. „Er fühlte sich bei den armen Menschen sehr wohl – später auch bei den Reichen“ – ein typischer Satz des so detailfreudigen wie distanzierten Romanciers. Ein anderer, amüsiert beklatschter: „Mit Literatur konnte man damals sehr reich werden.“
Demnächst im Literaturhaus: „Ach, Virginia“
Den bereits 2018 erschienenen Roman „Wiesenstein“, 550 Seiten mächtig, gibt’s als gebundenes Buch für 24 Euro bei C. H. Beck, als Taschenbuch bei dtv für 12,90 Euro. Pleschinskis neuester Roman „Am Götterbaum“ porträtiert Paul Heyse (1830 bis 1914) den gründlich vergessenen ersten deutschen Literaturnobelpreisträger, erschienen ebenfalls bei C. H. Beck, mit 280 Seiten für 23 Euro.
Noch ein Literaten-Porträt erleben die Gäste des Literaturhauses am Freitag, 12. November, um 19 Uhr im Café Klatsch, Elsässer Straße 17: Dann liest Michael Kumpfmüller aus „Ach, Virginia“ über die letzten Tage im Leben von Virginia Woolf.
Gerhart Hauptmann hat allerdings nie liebedienerisch im Sinne der Nazis geschrieben – aber er war eben auch nicht emigriert. „Ein Großschriftsteller blieb im Reich“, das machte aus Sicht Pleschinskis den Nobelpreisträger zur Kostbarkeit für das Regime. Seinem Publikum präsentierte er die ersten Seiten von „Wiesenstein“: den Aufbruch aus den schwelenden Ruinen von Dresden nach Osten, ins noch nicht umkämpfte Niederschlesien.
Die bis in die Gegenwart immer wieder inszenierten Tragödien „Rose Bernd“ und vor allem „Die Weber“ hatten Hauptmann einen Nimbus selbst in der Sowjetunion erworben – darauf jedenfalls setzten der Dichter und sein kleiner Hofstaat. Nah an der Erzählerperspektive präsentiert Pleschinski den Wehrmachtsmasseur Paul Metzkow, der sich selbst zur Pflege des greisen Großliteraten abgeordnet hatte – und so als staunender Neuling die Pracht der Villa Wiesenstein erlebt.
Im Kurpark die Leichen ermordeter „Drückeberger“
Pleschinski zeigte ihn in der zweiten Lese-Episode im innigen Flirt mit Doris Künast. Die Caféhaus-Wirtin unten im Tal erzählte ihrem einzigen Gast von – aus Sicht der heutigen Leser – grotesken Zukunftsplänen: dass sie nicht fliehen, sondern bleiben werde, um ihr Café schöner und weltläufiger auszustatten. Die nachfolgenden Buchseiten, die erzählen, wie Metzkow auf seinem Rückweg im Kurpark die Leichen ermordeter „Drückeberger“ in den Bäumen hängen sieht, ersparte Pleschinski seinen Zuhörern.
Dem gewieften Vortragskünstler war auch so ein mitreißendes Plädoyer für das Werk Hauptmanns gelungen: „Vieles bleibt sehr lesenswert.“