Oberhausen. Große Anteilnahme und Welle der Hilfsbereitschaft: Viele Oberhausener bangen um Freunde und Verwandte in der Türkei – und schimpfen auf Erdogan.
„Hi, hast du Zeit?“ Sevgi Keleş begrüßt mich wie eine alte Freundin. Sie steht alleine inmitten von Umzugskisten und prall gefüllten schwarzen Müllsäcken in einem Raum im Erdgeschoss der ehemaligen Neuapostolischen Kirche an der Rombacher Straße – seit 2017 das Zuhause der Alevitischen Gemeinde Alt-Oberhausen. „Okay, super!“
Sie strahlt und nimmt mich fest in den Arm. „Wir packen Babysachen ein. Brei, Schnuller, Windeln. Der Fahrer muss gleich los.“ Vor der Tür parkt ein weißer Sprinter mit geöffneter Ladefläche. Ein bärtiger Mann in langem Daunen-Wintermantel steht daneben und wartet. Das Kennzeichen des Wagens ist ein türkisches. Sind die Kartons verladen, wird er die Tausende Kilometer weite Reise ins Erdbebengebiet in Südostanatolien antreten.
Sevgi Keleş arbeitet routiniert. Die Sachen in den Beuteln, Taschen und Säcken überprüft sie mit einem kurzen Blick und schafft jene mit Fläschchen, Grießbrei, Folgemilchpulver und Feuchttüchern in die Mitte des dicht gepackten Raumes. „Das war hier alles sofort voll“, erzählt die Vorsitzende der alevitischen Gemeinde. „Das ging ruckzuck.“
Wie ein Lauffeuer hatten sich die Nachrichten von dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien am Montagmorgen (6. Februar) nicht nur bei den zahlreichen türkeistämmigen Menschen in ganz Deutschland verbreitet. Auch in Oberhausen war neben der großen Trauer und dem Entsetzen sofort der Drang bei vielen zu spüren, zu helfen. „Gestern waren wir bis in die Nacht hier und haben einen LKW nach Hatay losgeschickt.“ Die Provinz liegt zwischen der Mittelmeerküste im Westen und der syrischen Grenze im Osten des Landes. Keleş packt, erzählt und telefoniert: „Kommt her, wir brauchen Hilfe!“
Spenden für die Türkei: Der Fahrer des Sprinters fährt ehrenamtlich
„Hallo, kann ich hier noch etwas abgeben?“ Eine Frau kommt zaghaft herein, auch der Eingangsbereich und die ersten Stufen das Treppenhaus hinauf stehen voller brauner Pappkartons. Ursula Sevenheck hat aus den Nachrichten von der Katastrophe erfahren. Es hat sie mitgenommen, auch wenn sie noch nie in der Türkei oder in Syrien war. „Ich hatte aber viele türkische Schüler“, sagt sie. Die 69-Jährige war Lehrerin an mehreren Oberhausener Grundschulen. Für die Spendensammlung hat sie Winterjacken für Männer und Schneeanzüge für Kinder mitgebracht. Die wollte sie eigentlich zum Friedensdorf bringen, „aber hier werden sie jetzt dringender benötigt“.
Jetzt kommen neue Helfer hinzu. Die Kisten füllen sich schneller. Zukleben, beschriften, hinaustragen. „Nur nicht zu schwer packen“, ruft einer. Der Wagen darf nicht überladen werden. Sevgi Şentürk ist froh, dass sie etwas tun kann für die Menschen, denen so großes Leid widerfahren ist. „Ich konnte nicht mehr still sitzen“, sagt die 44-Jährige. „Es fühlt sich gut an, helfen zu können.“
Gleich nach den ersten Meldungen habe sie Freunde im betroffenen Gebiet angerufen, sie selbst stammt aus einer anderen Region. Über Whatsapp und Instagram hätten sich auch schnell die Mitglieder beider alevitischen Gemeinden in Oberhausen ausgetauscht und eine gemeinsame Hilfsaktion beschlossen. „30.000 Euro haben wir schon gesammelt“, sagt Sevgi Keleş, während sie eine weitere Box mit Babynahrung füllt. Aber wo bekommt man so schnell ein Fahrzeug für den Transport her? „Ach, das ist gar nicht so leicht“, antwortet sie. Vermutlich zu kompliziert, um es zu erklären. Einer kennt einen und der wiederum jemanden, der gerade etwas nach Deutschland gebracht hat und nicht mit leerem Wagen zurückfahren will. Der Mann, der draußen wartet, sagt Keleş, mache dies sogar ehrenamtlich. „Er möchte nur das Spritgeld.“
Kritik am türkischen Staat: Wollen sie etwas verschleiern?
Langsam leert sich der Raum, wir legen die Plastiktüten zusammen, in denen die Spenden angekommen waren. Was jetzt noch hier ist, kommt in den nächsten Transporter, der ist schon organisiert. Er soll vor allem mit Decken gefüllt werden, unzählige stapeln sich hier neben warmer Kleidung. Mützen, Schals, dicke Socken – die meisten der Spenden sind nagelneu und originalverpackt.
Doch es ist auch Second-Hand-Ware dabei, gebrauchte Kleidung also – und das könnte zum Problem werden. Denn die türkischen Hilfseinrichtungen wie der Rote Halbmond und die Regierungsstelle AFAD wollen nur unbenutzte Spendenware annehmen. Überhaupt will die Türkei, dass die gesamte Verteilung über diese beiden Stellen läuft.
Das ärgert die anwesenden Mitglieder der alevitischen Gemeinde, die bei Kaffee und Zigaretten eine Pause einlegen, ungemein. „Wir wollen selbst entscheiden, wo die Sachen hingehen“, sagen sie. Ihr Wunsch ist es, dass andere alevitische Gemeinden die Spenden erhalten und an Bedürftige weitergeben. Sie spekulieren, dass der türkische Staat mit der zentralen Verteilung von Sachspenden verschleiern will, dass die Hilfen aus dem Ausland kommen: „Die wollen so tun, als hätten sie selbst den Menschen geholfen.“
Spendenkonto der Türkischen Gemeinde
Auch die Türkische Gemeinde Oberhausen sammelt Spenden für die betroffenen Menschen in der türkischen Erdbebenregion nahe der syrischen Grenze.
Mit dem Vermerk „Erdbebenspende Türkei“ kann auf das Konto der Türkischen Gemeinde Oberhausen e.V. (IBAN: DE48 3655 0000 0000 1429 50 BIC: WELADED1OBH) Geld überwiesen werden. Spendenbescheinigungen sind möglich.
Dabei sei dies mitnichten der Fall, beklagt Ece Özkan. Die Familie der 34-Jährigen hat es besonders schwer getroffen. Mehrere Verwandte konnten nur tot aus den Trümmern geborgen werden. Sie zeigt Fotos auf dem Handy. Und ein Video von einem Haus in Schutt und Asche, umgeben von Schnee. „Darunter liegt mein Cousin.“ Inzwischen wurde er beerdigt. Doch sein eigener Bruder musste ihn herausziehen, bei eisigem Wetter und Schneefall. „In den Dörfern ist noch gar keine Hilfe angekommen“, sagt Ece Özkan. Sie ist zu verzweifelt, um wütend zu sein. Ihre Mutter sitze nur noch weinend vor dem Fernseher. „Wir müssen sie dort richtig wegziehen.“
„Der eigene Staat tötet die Türkei“, sagt Hasan Aydemir. Er könne nicht mehr klar denken seit dem Erdbeben. „Mein Kopf ist leer“, sagt er. Der 83-Jährige teilt die immer lauter werdende Kritik am türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan. „Seine Regierung hat nicht dafür gesorgt, dass die Gebäude erdbebensicher gebaut wurden“, kritisiert Ersin Bilge, der frühere Vorsitzende der Alevitischen Gemeinde.
In privat organisierten Hilfsaktionen hat er schon Tausende Schulkinder in der türkischen Provinz mit Heften, Stiften und Büchern versorgt. Schon bald, sagt er, wird er wieder hinfliegen, um den Kindern Geschenke zu bringen, die er stets auf einen kleinen Esel lädt. Das Ziel ist klar: Pazarcık, das Zentrum des schrecklichen Bebens vom 6. Februar 2023.
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