Oberhausen. Ersin Bilge ist ein Oberhausener mit türkischen Wurzeln. Arme Kinder in den Dörfern seiner Heimat lässt er am deutschen Wohlstand teilhaben.
Als kleiner Junge lebte der Oberhausener Ersin Bilge noch mit seiner Familie im Osten der Türkei, in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Erzincan. Wenn er im Unterricht den Blick nach draußen schweifen ließ, sah er nichts als Berge. Kein Fahrzeug hätte sich damals einen Weg in diese Gegend bahnen können, die Menschen transportierten alles, was sie brauchten, per Ochs und Esel.
Damals träumte Bilge von einem Esel, der beladen mit Heften, Büchern und Stiften in seine Schule käme, um die Armut der Kinder zu lindern. „Dieser Esel ist niemals erschienen“, sagt er, „aber ich habe meinen Traum trotzdem wahr werden lassen“. Tausenden Kindern in seiner alten Heimat hat der heute 58-Jährige Literatur und Schreibmaterialien gebracht. Immer dabei: ein kleiner Esel.
Schwieriger Start als Einwanderer aus Liebe
Seit 1992 lebt Ersin Bilge in Deutschland. Er folgte damals seiner Frau Hülya, die bereits als Kind mit ihrer Familie ausgewandert war. Seine sichere und angesehene Stelle als Finanzbeamter gab er auf. Erst leben sie in Bremen, wo Bilge einen Job in einer Mauersteinfabrik annimmt. Als diese Konkurs anmeldet, wird Bilge arbeitslos.
Ohne Deutschkenntnisse bleibt ihm der Weg in andere Berufe verschlossen. „Es gab psychisch schwierige Zeiten für mich“, deutet er beim Gespräch in seinem Reihenhäuschen im Marienviertel an. Doch es überwiegt das Positive, die beiden Söhne Doruk und Direnç werden geboren, Hülya Bilge verdient den Lebensunterhalt der Familie mit ihrer Arbeit als Postbotin und gibt ihrem Mann den Raum, seiner Leidenschaft nachzugehen – dem Lesen und Schreiben.
Im oberen Stockwerk ihres Hauses fühlt Ersin Bilge sich am wohlsten. Hier befindet sich, gegenüber vom Gästebett und neben dem Weinregal, seine Bibliothek mit Weltklassikern in türkischer Sprache. Ein Sessel steht einladend davor, an der freien Wand hängen gerahmte Zeitungsartikel über ihn, den „Dostojewski zu Esel“, wie ihn die türkische Presse nennt, weil er den Kindern neben Werken von Friedrich Nietzsche und türkischen Schriftstellern wie Fakir Baykurt und Yaşar Kemal auch Bücher des bedeutendsten russischen Autors mitbringt.
Das einfache, harte Leben im Dorf
2019 war es, als Ersin Bilge sich an seinen Kindheitstraum erinnerte. An den Esel mit Geschenken, den er sich als Kind gewünscht hatte, und auch an die Enge des Dorfes, das einfache, harte Leben dort. „Obwohl es meiner Familie vergleichsweise gut ging“, erzählt er, „so bin auch ich niemals im Kino gewesen oder in einem Theater. Auch einen Arzt hatte ich nicht gesehen. Krankheiten wurden von den Dorfbewohnern selbst behandelt“. Im Winter seien die Menschen mit Pferden und Schlitten durch den meterhohen Schnee gezogen – „und immer wieder schaffte es eine Frau bei der Geburt nicht bis ins Krankenhaus in der Stadt und musste sterben“.
„Jetzt, als Oberhausener, als jemand, der so viel Glück gehabt hat im Leben, wollte ich teilen, was ich habe“, sagt Ersin Bilge über seine erste Hilfsaktion. Seine Familie habe ihn bestärkt und viele Freunde hätten Geld gespendet, mit dem er eine Tour durch 13 Dörfer seiner Heimat machen konnte.
800 Kindern brachte er Bücher, Stifte, Hefte, Anspitzer. Einfachste Dinge, die immer noch, Jahrzehnte nach seiner eigenen kargen Kindheit, Mangelware sind. Traurig darüber und gerührt von der Freude der Kinder erlebte Ersin Bilge diese Reise in seine Vergangenheit.
Den Esel lieh er sich in jedem Dorf von einem Bauern aus, um die letzten Meter zur Schule mit ihm zurückzulegen. „Ich wollte, dass die Kinder dieses Bild in Erinnerung behalten: Da kommt jemand mit einem Esel, der uns bringt, was wir brauchen.“
Leben in Deutschland: großes Glück und Dankbarkeit
Mit Hilfe von vielen Spendern konnte er zwei weitere Male Geschenke in anderen Regionen der Türkei verteilen. Mehr als 2000 Kindern hat er geholfen und weitere 26 Dorfbewohner beim Studium unterstützt. „Drei machen gerade ihren Master in Spanien und Deutschland“, berichtet er stolz, als würde er von seinen eigenen Kindern sprechen. Dies alles sei nur möglich, weil er ein so gutes Leben in Deutschland habe, sagt Bilge. Er sei sehr dankbar dafür und wisse es zu schätzen. Die Meinungsfreiheit, Justiz und Gerechtigkeit hätten ihm sofort gefallen hier und auch die soziale Sicherheit. „Ich muss keine Angst haben, Hunger und Durst zu leiden oder meine Familie nicht ernähren zu können.“
Sein Zuhause sei längst Oberhausen, sagt Ersin Bilge. Auch wenn die Gedanken immer wieder in der Türkei seien, „im Dorf meiner Kindheit“. Über Deutschland sagt er: „Ich bin ein Teil von hier. Hier, wo meine Kinder und meine Enkeltochter leben.“ Dass er die deutsche Sprache – trotz deutscher Staatsangehörigkeit – noch immer kaum beherrscht, ist für ihn kein Widerspruch. „Das Wichtigste ist die Seele. Liebe und Frieden kann man auch ohne Worte ausdrücken. Mit Körpersprache oder auch Musik.“
Buch erscheint in dritter Auflage
Über seine Kindheit und Jugend in der Türkei, seine Anfangsjahre in Deutschland und die Hilfsaktionen in den Dörfern seiner Heimat hat Ersin Bilge ein Buch geschrieben.„Eşekle Gelen Dostoyevski“ (Dostojewski kommt per Esel) ist in türkischer Sprache verfasst und in einem türkischen Verlag erschienen. Per ISBN 9786257398190 kann es überall bestellt werden.
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