Ruhrgebiet. Telefon, TV, Whatsapp: Nach dem Erdbeben stehen türkische Familien im Ruhrgebiet stark unter Stress. Sie bangen um Freunde, Verwandte, Bekannte.

Für Songül und Ali T. aus Duisburg geht das Gefühlschaos schon früh am Morgen los. Sie stammen aus der südostanatolischen Kurdenmetropole Diyarbakır, etwa 300 Kilometer vom Zentrum des Bebens entfernt, doch haben sie dort Freunde, Verwandte, Bekannte. „Als ich morgens um acht auf mein Handy gesehen habe, waren da schon Anrufe von Verwandten. Ich wusste sofort: Da ist etwas passiert.“

Sie läuft gleich zum Fernseher, sie haben ja 20 türkische Kanäle. Die zeigen die Katastrophe in Endlosschleife. Immer mehrere Städte gleichzeitig auf dem geteilten Bildschirm. Einstürzende Gebäude, verschreckt auf den Straßen herumirrende Menschen. Geschrei, Sirenen, darüber die monotonen Ausführungen von Geologen, Seismologen, Lokalpolitikern.

„Wenn der Todesengel gekommen ist, um mich zu holen, soll er es tun“

Darkush, Syrien: Ein Mann hält die Hand vor seinem Gesicht, während Erdbebenopfer im al-Rahma-Krankenhaus behandelt werden.
Darkush, Syrien: Ein Mann hält die Hand vor seinem Gesicht, während Erdbebenopfer im al-Rahma-Krankenhaus behandelt werden. © dpa | Ghaith Alsayed

Die 62-Jährige beginnt zu telefonieren. In den nächsten Stunden wird sie das Handy nur zum Aufladen aus der Hand legen. Erst ruft sie ihren jüngsten Bruder Mahmut an, dann die Mutter. „Mama, geht es dir gut?“ Am anderen Ende der Leitung Stimmengewirr. Alle im Raum hängen an den Telefonen. „Allah sei Dank, ich lebe noch“, sagt die 94-Jährige.

Doch Songül T. ist nicht wirklich beruhigt. Sie haben es nicht geschafft, die bettlägerige mehrfache Großmutter und Urgroßmutter bei den starken ersten Stößen aus dem Haus zu bringen. „Ich schaffe das nicht mehr“, sagt sie. „Wenn der Todesengel gekommen ist, um mich zu holen, dann soll er es tun.“

Gazianteps Partnerstadt Duisburg füllt Container mit Notbetten und Decken

Was Songül und Ali T. am Montag durchmachen, dass erleben tausende Türken und Türkinnen und türkische Deutsche im Ruhrgebiet genauso. Zugleich machen sich überall in Nordrhein-Westfalen Hilfsorganisationen daran, diesem Todesengel entschlossen in den Arm zu fallen. Auch eine Stadt ist darunter, und das ist Duisburg.

Die städtischen Katastrophenschützer versuchten „auf allen Kanälen, die Menschen und Behörden in Gaziantep zu erreichen“, um herauszufinden, was dort am dringendsten gebraucht werde, sagt eine Stadtsprecherin. Dies sei wegen der zusammengebrochenen Festnetz- und Mobilfunknetze sehr schwierig. Die Feuerwehr füllt eilig einen Container mit Notbetten, Decken und Hygieneartikeln, der möglichst schnell auf den Weg geschickt werden soll. Die Zwei-Millionen-Stadt Gaziantep ist Partnerstadt der Duisburger seit 2005.

Lesen Sie auch: Hilfsorganisationen bitten um Spenden

„Wir stehen bei Minusgraden im Schnee draußen“

Auch etwas weiter westlich läuft die Hilfe an, in Tönisvorst. Mitarbeiter der Hilfsorganisation „action medeor“ packen Hilfsgüter zusammen, Verbandsmaterial vor allem. Dazu Patientenmonitore, die die Vitalfunktionen von Patienten erfassen, und Sauerstoffkonzentratoren, also Geräte, die die Atemluft mit Sauerstoff anreichern.

Und auch der katholische Malteserorden mit Sitz in Köln bringt ein Nothilfeteam auf den Weg. Teamleiter Oliver Hochedez sagt, vor allem in den Flüchtlingsgebieten im Norden Syriens benötigten die Menschen dringend Unterstützung. „Dort leben Hunderttausende in einfachen Unterkünften und sind nun schutzlos.“

Auch aus dem türkischen Gaziantep kommen weiter schlimme Berichte. Dort ist Rami Araban, ein Mitarbeiter von Care Deutschland in Bonn. „Es war beängstigend und hat einfach nicht aufgehört“, sagt er: „Ich dachte, die ganze Stadt stürzt zusammen.“ Er habe nur noch 13 Prozent Akku, es gebe kein Wasser und „wir stehen bei Minusgraden im Schnee draußen. Die Menschen weinen. Alle haben Angst.“

Whatsapps von Brüdern, Schwestern, Nichten, Neffen

Rettungskräfte und Helfer bergen im türkischen Adana eine Person auf einer Bahre aus einem eingestürzten Gebäude.
Rettungskräfte und Helfer bergen im türkischen Adana eine Person auf einer Bahre aus einem eingestürzten Gebäude. © dpa | Elifaysenurbay

Für Kinder und ältere Menschen sei die Situation besonders schwer: „Die Nachbeben sind sehr heftig und alle befürchten, dass das nächste Gebäude einstürzt, deswegen traut sich niemand rein“. Und richtig: Am frühen Nachmittag Ortszeit - Mittagszeit bei uns - folgt ein weiteres schweres Nachbeben.

So ist auch bei Songül und Ali T. an Ruhe nicht zu denken. Schon wieder das Festnetztelefon. Freundinnen rufen an, vergewissern einander: „Geht es deiner Familie gut?“ Tränen fließen, Songül T. schluchzt, als sie die vertrauten Stimmen hört. Das Handy piept wieder. Whatsapps von Brüdern, Schwestern, Nichten, Neffen. Verwandte und Freunde aus Kanada, aus Schweden, aus dem Sauerland schreiben Beileidsworte für ein ganzes Land. Im Türkischen ist dies besonders blumig, besonders emotional möglich.

Sie werden noch sehr lange auf diese Bilder starren

Eilmeldung im TV: Ein neues Beben, fast genauso stark wie das erste. Die Reporterinnen sprechen aufgeregter, ihre Stimmen überschlagen sich fast. Sie stehen im Regen, manche im Schnee. Es ist eisig kalt. Noch eine Sprachnachricht von Mahmut. Nach dem zweiten Beben hat er mit seiner Frau und den beiden Kindern das Haus verlassen. Sie sitzen jetzt im Auto. Es ist kalt.

Songül T. und ihren Mann hält es kaum auf den Wohnzimmerstühlen. Immer näher rücken sie an den Bildschirm heran. In den Trümmern wird nach Toten und Überlebenden gesucht. Plötzlich Stille. „Ruhe!“, rufen die Helfer vor Ort. Auch Songül und Ali T. halten die Luft an. Aus dem Geröll dringen Hilferufe. „Mein Gott. Mein Gott.“ Sie werden noch sehr lange auf diese Bilder starren.