Oberhausen. Pflegekinder und Familien schildern in einem Buch aus Oberhausen eindrücklich ihre Erfahrungen. Was das Zusammenleben schwer macht.
„Das war immer die Hölle. Wenn sie kam, war es immer schön, aber als sie dann nicht mehr kam, war es die Hölle.“
Marcel schmerzen die Erinnerungen an die Besuchskontakte mit seiner leiblichen Mutter. Er habe immer auf den nächsten Bus gewartet und sich gefragt „Lag es an mir?“ Nein, denn wahrscheinlicher ist, dass die Gründe bei seiner alkoholkranken Mutter zu suchen sind.
Martin ist eines der Pflegekinder, das in dem Buch „Diese eine Blume die uns verbindet – Abenteuer Pflegefamilie“, seine Erfahrungen schildert. Zu Wort kommen im Fortsetzungsbuch des Oberhausener Vereins Löwenzahn Erziehungshilfe auch die Pflegeeltern und - geschwister. Heraus kommt ein Zeugnis über Glück, Wut, Verzweiflung – tiefschürfend, wie das Leben sein kann.
Laut Projektleiterin Corinna Hops ist „RückBlickPunkte 2“ in Deutschland einzigartig. Die heute erwachsenen Kinder und Eltern haben mit Unterstützung ihre Erfahrungen in Worte ausgedrückt. Viel helfen mussten Hops und ihr Team nicht. Was sie zu berichten haben, geht auch ohne literarische Kunstgriffe unter die Haut.
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Marcel: Dankbar trotz Schädigung
Zurück zu Marcel. Er lebte nur zwei Jahre bei seiner leiblichen Mutter. Nachdem er aus dem Bett fiel und sich das Bein brach, wurde er wie seine drei Geschwister in staatliche Obhut genommen. Seine spätere Pflegemutter Karin Jäschke erinnert sich an seinen „desolaten Zustand“, als sie ihn im Krankenhaus traf. Die Zähne seien abgefault gewesen und hätten sämtlich herausoperiert werden müssen. Weitere OPs folgten. Wegen der Alkoholsucht seiner Mutter erlitt er eine Fetalen Alkohol Störung, war deshalb zu 50 Prozent behindert. Die Erkrankung zeigte sich in heftigen Wutausbrüchen und einer verminderten Lernfähigkeit.
Marcel erinnert sich, wie er sich an seinen Pflegevater klammerte, weil er sich vor einer Möwe ängstigte; er erinnert sich an die Urlaube mit seiner Pflegefamilie, deren Namen er später annahm; an den unerwarteten Tod seiner Mutter, der er trotz allem dankbar sei. „Reflektiert betrachtet, hat meine Mutter nach ihren Möglichkeiten immer nur das Beste für mich gewollt.“ Heute arbeitet der 23-Jährige als Beikoch in einer Jugendbildungseinrichtung. Sein nächstes Ziel: Eine eigene WG.
Bettina: Wut und Liebe
Es ist schwer zu ertragen, was den Kindern in jüngsten Jahren zustieß. Nicht ohne Grund wurden sie von ihren leiblichen Eltern getrennt. So wie Bettina. Die heute 26-Jährige wurde vom Lebensgefährten ihrer Mutter ab ihrem zweiten Lebensjahr vergewaltigt. Als sie drei war, krabbelte sie in den Hausflur und schrie, dass die Nachbarn sie hörten. Ihre Rettung.
Sie kam in eine Pflegefamilie, durchlief eine Schullaufbahn, wurde gemobbt, machte eine Ausbildung trotz Schwerbehinderung, sogar einen Führerschein und lebt seit 2017 in einer betreuten WG. „Ich habe in meinem Leben so viel erreicht und erlebt. Ich hoffe, dass ich noch viel mehr in meinem Leben erreichen werde“, schreibt sie. Bettina dankt ihrer Familie, die sie „nie mehr missen wolle. „Ich liebe euch alle.“
Ihre drei Pflegegeschwister, allesamt erwachsen, sehen in Bettina eine Schwester, kein Pflegekind. „Es spielt keine Rolle, wer Tinis leibliche Eltern sind, sie gehört zu meiner Familie“, schreibt Pflegebruder Alex. Allerdings sind auch ihre Wutausbrüche in Erinnerung geblieben. „Sätze wie ,Katrin du scheiß Schwester, ich will deinen Kopf abhacken und ihn auf den Grill legen!!!’“, bleiben glaube ich ewig in meinem Gedächtnis“, schreibt Katrin. Ihre Wut zeige sie einem genauso offen wir ihre Liebe.
Die Wut konnte dabei gnadenlos sein. Pflegemutter Bettina erinnert sich an den Tiefpunkt, als ihre Pflegetochter bei Tempo 140 auf der Autobahn auf das Baby der Familie einschlug. Sie habe angehalten und ihr eine Ohrfeige gegeben, berichtet Pflegemutter Bettina. „Ich war zutiefst entsetzt von mir selbst“. Eine Beratungsodyssee, aber eine erfolgreiche setzte sich in Gang. Heute überwiegt der Stolz auf Bettina und die gesamte Familie. „Durch Bettina haben wir so viel gelernt.“
Denise: Angst, allein gelassen zu werden
Keine Lebensgeschichte ähnelt der anderen, die Wut tritt allerdings häufig auf. So wie bei Denise, die große Ängste hatte, aber auch immens impulsiv reagieren konnte. Ihre Mutter war psychisch krank und vernachlässigte Denise und ihre Schwester. Erst im Alter von zehn Jahren wechselte sie in eine Pflegefamilie, ausgestattet von ihrer Mutter. Ihre Angst, verlassen zu werden, war so groß, dass sie an Tankstellen den Autoschlüssel festklammerte oder erleichtert war, wenn der Hund drin saß: „Für den Hund kommen sie bestimmt wieder“, schreibt sie in ihrem Bericht.
Seit zwanzig Jahren aktiv
Der Verein Löwenzahn Erziehungshilfe kümmert sich seit 1992 um die Vermittlung von Kindern, die nicht bei ihrer Ursprungsfamilie leben können.Zurzeit betreut der Verein im Ruhrgebiet 110 Kinder in 90 Pflegefamilien.Diplom-Sozialarbeiterin Corinna Hops von Löwenzahn schätzt, dass in Oberhausen etwa 350 Pflegekinder leben.
Auch Pflegemutter Ute beschreibt diese Szene. Gleichzeitig habe Denise in Sekunden explodieren können. Sie habe mehrmals die Glasscheibe der Haustür eingetreten, um sich geschlagen, gebrüllt. „Sie hat uns auch übel beschimpft; die Schimpfwörter fand ich persönlich nicht so arg, schlimm war die Verachtung mit der sie uns behandelte.“ Diese gipfelte bei einem Krankenhausaufenthalt der Mutter. Denise habe große Angst gehabt, ihr Zuhause zu verlieren. „Und diesmal trafen mich ihr Beschimpfungen: ,Hoffentlich krepierst du bald.’“
Als Denise auszog, sei Ute traurig gewesen. Nach einem halben Jahr hätten sie sich versöhnt. „Wir sehen uns oft und telefonieren fast täglich.“ Denise habe viel geschafft. Ihr Lebensabenteuer geht nun allein weiter. Die 25-Jährige ist heute in der Altenpflege tätig.
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