Oberhausen. Die Uraufführung von Noah Haidles grober Satire präsentiert im Theater Oberhausen eine sehr amerikanische Lösung: Die Guten skalpieren schneller.

Vom „Weltwissen“ ist beschwörend oft die Rede in „Kissyface“, Noah Haidles dramatischer Antwort auf die Ereignisse vom 6. Januar 2021. Doch dieses Weltwissen liegt in Trümmern. Das Publikum der Uraufführung nimmt Platz in einem Studio, das sich als staubgraue Bücherschatzkammer präsentiert: die Tische und Regale so schief, dass sie umzustürzen scheinen, die wertvollen Bände zu wilden Haufen zersprengt. Nur die selbst staubgrau frisierte Schulbibliothekarin (Susanne Burkhard) setzt mit stiller Hingabe den Ausleihstempel auf die letzten Seiten. Über ihr das ausgeblichene Banner der Highschool von East Grand Rapids mit den stolzen Worten „Tradition“ und „Excellence“.

So prangt es wirklich auf Noah Haidles alter Schule. So still, wie seine derbe Satire auf Donald Trumps Putschversuch beginnt – so krawallig gewinnt das Schauspiel bald an Rasanz. Und Anna Polke gibt als demagogisch polternder Rektor Overstreet einen gefährlich zischenden Brandbeschleuniger: Das Bürgerkriegs-Spiel startet durch mit einem Granateneinschlag in der Sporthalle (dem eigentlichen Schulheiligtum – von wegen „Weltwissen“). Und so werden alle zu Kriegern, rekrutiert von Klaus Zwick als hier nicht sonderlich überzeugendem Coach und Schleifer im Ungeiste von Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“.

Ein seltener Moment der Nähe: die Bibliothekarin „Miss P.“ (Susanne Burkhard) in den Armen des Coaches (Klaus Zwick).
Ein seltener Moment der Nähe: die Bibliothekarin „Miss P.“ (Susanne Burkhard) in den Armen des Coaches (Klaus Zwick). © Theater Oberhausen | Jochen Quast

Da tritt schon die – neben den Buchregalen – entscheidende Schieflage des Haidle-Textes zutage: Er lässt zwar die bildungsbeflissene Bibliothekarin Miss P. mit zärtlicher Innigkeit die Schätze der Weltliteratur aufsagen: von Brehms „Tierleben“ bis Oscar Wildes „Salome“. Doch „Kissyface“ selbst ballert los, als gäb’s kein Morgen. Selten seit William Shakespeares 430 Jahre alter Splatter-Tragödie „Titus Andronicus“ wurde so ausgiebig aufeinander eingestochen, gemeuchelt, gefoltert – und sich röchelnd und ächzend in ausgiebigen Sterbereden ergangen.

Figuren aus Cartoons und altbekannten Film-Genres

Allerdings ist das Ganze so grotesk angelegt und unter der Regie von Oberhausens neuer Intendantin Kathrin Mädler mit soviel Gusto ausgespielt, dass diese Fülle an Schock-Szenen sich als grimmiger Humor goutieren lässt. Schließlich changiert auch das Personal dieses Bürgerkrieges zwischen Figuren aus Cartoons und altbekannten Film-Genres: Da ist Maude (Nadja Bruder), die Tochter der Bibliothekarin, als verhuschtes Aschenputtel mit Psycho-Knacks. Aus dem Krieg kehrt sie mit reichlich Skalps am Gürtel zurück. Natürlich wird auch aus Joey (David Lau), dem typischen Loser der Highschool-Hackordnung (böser Kalauer!) ein Krieger fürs Gute, der mehrmals niedergestochen wiederaufersteht. Und selbst Rory (Elias Baumann), schnöselige Sportskanone im Footballer-Dress, wechselt von der dunklen zur vermeintlich hellen Seite der Macht.

Das ist das Problem bei diesem allzu amerikanisch konfektionierten Text: Noah Haidle kann zwar Thukydides (454 bis 399 v. Chr.) zitieren – aber er kennt offensichtlich nicht William Butler Yeats’ prophetisches Gedicht „The Second Coming“: „Den Besten fehlt jede Überzeugung, während die Schlimmsten befeuert sind von Leidenschaft“ – eine für 2021 wie für 1921 traurig treffende Zeitdiagnose.

In „Kissyface“ allerdings verliert selbst die so zart und zaudernd angelegte „Miss P.“ jegliche Skrupel und darf dem Schul-Demagogen (an dessen Karikatur Anna Polke großen Spaß haben dürfte) mit einem martialischen Bowie-Messer die Finger kappen – damit der gefolterte Rektor ein humanistisches Manifest verliest. Wenn man sich also nur noch mit Klingen und Sprengkörpern für die Demokratie einsetzen kann, dann ist das wohl mehr als das Ende der höflichen „Well made plays“ amerikanischer Machart. Dann können „Die unendliche Geschichte“ oder „Das Tagebuch der Anne Frank“ wahrlich in Bibliotheksruinen verstauben.

Das Publikum ist maskiert, das Ensemble getestet

Weitere Aufführungen von „Kissyface“ folgen im Studio (das bisher als Saal 2 firmierte) am Sonntag, 2., Samstag, 8., Samstag, 15., Sonntag, 23. und Freitag, 28. Oktober. Karten kosten 15 Euro, ermäßigt 5 Euro. Dauer: Eindreiviertel Stunde.

Die „Schulbibliothek“ als Schauplatz des hautnahen Schauspiels bietet Platz für 68 Zuschauer. Sie sind gehalten, FFP2-Masken zu tragen; das Ensemble ist täglich getestet.

Karten gibt’s unter 0208 8578 184, per Mail an service@theater-oberhausen.de