Oberhausen. Mit dem gefeierten Romandebüt „Identitti“ zeichnet Mithu Sanyal im Literaturhaus eine komplexe Gemengelage um Identität und akademische Diskurse.
Lesungen im Literaturhaus Oberhausen, das ja inzwischen im Gdanska am Altmarkt residiert, sind immer ein Erlebnis. Oft lehrreich, so erfuhren wir in der Vergangenheit etwa spannende Dinge über unser Sterben; meist unterhaltsam, wie unlängst erst die Podologin umgeschulte Autorin Katja Oskamp mit feinen Geschichten ihrer Fuß-gepflegten Kundschaft zeigte.
Der Düsseldorfer Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal freilich gelang jetzt bei der Präsentation ihres Romandebüts „Identitti“ (Hanser, 432 Seiten, 22 Euro) im nicht ganz gefüllten Gdanska Theater das hinreißende Kunststück, beide Welten hochvital zu verbinden. Von wegen simple Lesung mit Gesprächseinführung! Glänzend moderiert von Harald Obendiek, genoss man eine quirlige Talkshow mit nur wenigen, eher illustrativ servierten Häppchen aus dem vom Literaturbetrieb begeistert aufgenommenen Roman.
Dabei hatte die 1971 in Düsseldorf geborene Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters zunächst mit einem Sachbuch reüssiert. Dessen Thema habe ihr so schöne Fragen eingebracht wie „Vulva, ist das ein Fluss in Russland?“, erzählte die ebenso charmant wie sprachgewaltig plaudernde Autorin. Um dann trocken zu konstatieren, vor ihrer Promotionsarbeit habe man der „weiblichen Scham“ meist den Namen Vagina angehängt: „Das ist so, als ob man zum Hoden Penis sagen würde.“ Da kicherten nicht nur die älteren Damen im Theatersaal überhaupt nicht verschämt.
Shitstorm aus der rechten Ecke
Natürlich umging Harald Oberdiek auch nicht den veritablen Shitstorm, den die Autorin mit dem (wenn man phonetisch kalauernd so will) sprechenden Vornamen durch den Vorschlag ihres nächsten Sachbuchs „Vergewaltigung“ und einen Artikel der „tageszeitung“ auslöste: Neben dem stigmatisierenden Begriff „Opfer“ sollte ergänzend die Bezeichnung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ stehen. Mit der Folge, dass rechte Blogs wörtlich Mord und Totschlag schrien – samt Verweisen auf ihre indischen Wurzeln.
Irgendwann landeten die beiden auf dem Podium schließlich doch bei „Identitti“, dessen Inhalt um die große Frage von People of Color (kurz PoC – Menschen nicht weißer Hautfarbe) kreist: Wer bin ich und wo stehe ich in der Gesellschaft? Wunderbar raumgreifend mir graziösen Fingerbewegungen parlierte Mithu Sanyal mit geradezu theatralischer Grandezza über die Figuren ihres Romans, die sich im akademischen Milieu eines Masterstudiengangs Intercultural Studies / Postkoloniale Theorie bewegen.
Die Erzählerin Nivedita (indischer Vater, deutsche Mutter) bloggt unter dem Namen „Identitti“ über Feminismus und Identitätspolitik, wo sie auch imaginäre Gespräche mit einer gewissen Kali führt. An der Universität wird ihr eine ebenso berühmte wie gefürchtete Professorin, die sich Saraswati (nach der hinduistischen Göttin für Weisheit) nennt, zur Erlöserinnenfigur: Sie schließt Weiße radikal aus ihren Seminaren aus und schafft so eine verschworene Gemeinschaft von PoC, mit Nivedita als Lieblingsstudentin.
Folgt „Transrace“ auf Transgender?
Bald stellt sich freilich heraus, dass Saraswati eigentlich Sarah Vera Thielmann (weder verwandt noch verschwägert mit dem Berichterstatter, wie Harald Obendick sofort klarstellte) heißt, aus einer rein weißen Zahnarztfamilie in Karlsruhe stammt und sich in Indien hormonell umfärben ließ. Ein veritabler Skandal, der natürlich zahllose Fragen aufwirft: „Wenn es Transgender gibt, gibt es dann auch Transrace?“
Mit solchen Pointen empfiehlt sich eindringlich die Lektüre dieses Buches, das faszinierende Einblicke in ganz andere Lebenswelten eröffnet. Wie fabelhaft Mithu Sanyal diese im Dialog mit Harald Obendiek voller Verve und feinem Humor vorstellte, war ganz großes Kino – erfrischend unterhaltsam und gleichzeitig lehrreich.
Ausklang eines hochkarätigen Autorinnen-Quartals
Den letzten Termin eines hochkarätigen Autorinnen-Quartals im Literaturhaus übernimmt am Freitag, 23. September, um 19 Uhr im Gdanska Theater, Gutenbergstraße 8, Karosh Taha mit ihrem Roman „Im Bauch der Königin“.
Aus der Sicht zweier kurdischer Jugendlicher, Amal und Raffiq, erzählt sie eine Exil-Geschichte auf neue Art: Shahira, die Mutter ihres Freunds Younes, bricht die Regeln der kurdischen Gemeinde: Sie ist alleinerziehend und schert sich nicht um die Blicke der Leute. Für Amal und Raffiq ist sie Faszination und Provokation zugleich. Sie bewundern Shahira für ihre Unabhängigkeit, missbilligen aber auch, wie sie ihre Bedürfnisse scheinbar über die von Younes stellt.
Der Eintritt kostet 10 Euro, ermäßigt 5 Euro, online literaturhaus-oberhausen.de