Essen. Für ihren Roman „Identitti“ hat Mithu Sanyal den Literaturpreis Ruhr erhalten. Ein Gespräch über Herkunft, Migrationsjoker und das Ruhrgebiet.

Ihr Roman „Identitti“ handelt von Herkunft und Rassismus und stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Am Donnerstagabend im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen erhielt Mithu Sanyal (50) nun den Literaturpreis Ruhr – und überraschte mit einer Ankündigung. Britta Heidemann sprach mit ihr.

Frau Sanyal, was war das für ein Moment am Donnerstagabend?

Mithu Sanyal: Es ist mein wunder Punkt, dass ich in meiner Heimatstadt Düsseldorf noch nie einen Preis bekommen habe – obwohl ich zum Beispiel sehr oft für den Förderpreis für Literatur nominiert war. Deshalb war das so bewegend für mich! Der Literaturpreis Ruhr ist einer meiner Lieblingspreise, ich fühle mich der Region sehr zugehörig. Meine Oma kommt gebürtig aus Polen, aber ihre ganze Familie ist damals ins Ruhrgebiet gegangen, um im Bergbau zu arbeiten. Sie hat immer gesagt: Ich bin ein Marxloher Mädchen. Bei der Preisverleihung hat man einmal mehr gemerkt: Das Ruhrgebiet ist ein bisschen lockerer, ein bisschen lustiger als andere Regionen – und viel, viel diverser.

Sie haben auf der Bühne gesagt, dass Sie den Preis teilen wollen?

Genau. Es standen fünf Leute auf der Shortlist, und ich habe mit den Preisgebern abgesprochen, dass jeder ein Fünftel des Preisgeldes bekommt. Man kann Bücher nicht miteinander vergleichen. Die Bücher auf der Shortlist sind alle toll! Hinzu kommt: Ich habe einen Vertrag für mein nächstes Buch, ich weiß, dass ich weiterschreiben kann. Dann kann ich das Geld auch teilen.

„Bei Indien schwärmen alle vom Essen, von Yoga und Ayurveda – das ist der Joker“

Im Roman heißt es ironisch, „Inderin zu sein, war in Deutschland der Joker unter den Migrationskarten“. Sie haben wie ihre Romanheldin Nivedita eine polnische Mutter und einen indischen Vater – war das ein Joker?

Der Roman ist nicht autobiografisch, aber ich wollte über Menschen „wie mich“ schreiben. Ich habe viele Zuschriften von Menschen bekommen, die wie ich „mixed race“ sind und sich zum ersten Mal in einem deutschen Roman wiederfinden. Unter den Menschen, die gemeinhin als „Ausländer“ bezeichnet werden, ist Indischsein in Deutschland tatsächlich der Joker. Bei Indien schwärmen alle vom Essen, von Yoga und Ayurveda. Das ist zum Beispiel in England ganz anders: Da sind Inder die größte Migrationsgruppe und eine, die am meisten Rassismus erfährt.

Ihr Buch wirft die Frage auf, ob Herkunft so frei wählbar wäre wie das Geschlecht. Wäre das wünschenswert?

In einer perfekten Welt, in der es keinen Rassismus gibt und die Wunden geheilt sind, wäre die Herkunft natürlich frei wählbar. Sie ist noch viel mehr ein Konstrukt als das Geschlecht, was ja ebenfalls konstruiert ist. Wenn meine Romanfigur Saraswati, die eigentlich weiß ist, sich als Inderin ausgibt und als Professorin über Rassismus lehrt, ist das aber in der Welt, so wie sie ist, ein Problem – nur wissen wir gar nicht so genau, was das Problem daran ist.

„Um Rechte einzuklagen, müssen wir nachweisen, dass wir benachteiligt werden“

Hat es damit zu tun, dass sie sich eine Opferrolle aneignet?

Um politische Rechte einzuklagen, müssen wir nachweisen, dass wir benachteiligt werden. Nur dann gibt es Antidiskriminierungsgesetze. Wenn man so politisch denken muss, besteht die Gefahr, dass dies auf mein Wesen übergreift. Aber meine Identität ist ja nicht: Opfer. Nein, das eigentliche Problem ist ein anderes. In den 90er-Jahren wurde mir noch gesagt: Nein, Mi­thu, über Rassismus können nur die Experten etwas sagen. Das waren in der Regel weiße Männer. Und jetzt kommt eine weiße Professorin und malt sich braun an und erklärt uns noch einmal, wie Rassismus funktioniert. Das weckt die alte Angst vor Entmündigung. Es geht auch um Verteilungskämpfe: Wenn es mehr Professorinnen mit diversem Hintergrund gäbe, würde es nicht so ins Gewicht fallen, dass Saraswati eine Weiße ist, die sich verkleidet hat.

Sie zeichnen auch den öffentlichen Diskurs zum Skandal nach, sie haben im Netz um Reaktionen gebeten – wie war die Resonanz?

Gerade in den Tweets wollte ich die Vielstimmigkeit des Diskurses im Internet darstellen. Ich habe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefragt, Leute aus dem aktivistischen Bereich, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Journalistinnen und Journalisten: Wenn du nachts von einem Fall wie Saraswati hören würdest, was würdest du dann tweeten? Ich hatte sehr viele positive Reaktionen und war begeistert, wie unterschiedlich die Antworten auch sprachlich waren. Es ging mir um den Chor – der sich im Laufe der Debatte ja auch verändert.