Essen. Die Düsseldorfer Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal und ihr Romandebüt „Identtiti“: Können wir heute Herkunft so frei wählen wie das Geschlecht?

Saraswati ist Professorin für Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie an der Universität Düsseldorf, und wie es sich für einen echten Popstar ihrer Szene gehört, trägt die indischstämmige Intellektuelle keinen Nachnamen. Die 26-jährige Nivedita Anand, Tochter von Birgit Schimanski aus Polen und Jagdish Anand aus Indien, aufgewachsen im Essener Norden, ist ihre Studentin – und Jüngerin. Denn Saraswati ist purer Kult: Sie wirft alle weißen Studentinnen und Studenten aus ihrem Seminar und lässt die übrigen ein „race diary“ führen, ein Tagebuch des Alltagsrassismus.

Ist Rasse nur ein soziales Konstrukt? Verhindert Rassismus, dass Nivedita sich selbst lieben kann? In ihrem Internet-Blog diskutiert Nivedita als „Mixed-Race-Wonder-Woman“ alias „Identitti“ mit Göttin Kali über Sex, Geschlecht, Gender – während sogar die coole Cousine Priti aus England anreist, um sich der Saraswati-Gemeinde anzuschließen.

Die Professorin Saraswati ist weiß, geboren als Sarah Vera Thielmann

Dann aber bringt ein winzig kleines Detail all die schönen Theoriegerüste zum Einsturz: Denn Saraswati ist weiß, geboren als Sarah Vera Thielmann. Die dunkle Haut verdankt sie einer Hormonbehandlung, auch die Haare sind nicht echt, die indischen Wurzeln sind angelesen.

Inspiriert wurde Mithu Sanyal von einem realen Fall aus den USA: die Aktivistin Rachel Dolezal hatte sich als Schwarze ausgegeben und wurde 2015 von ihren eigenen Eltern enttarnt (die deutsche und tschechische Wurzeln hatten); Dolezal aber fühlte sich durchaus im Recht und argumentierte, wenn das eigene Geschlecht frei wählbar sei, müsse es auch die eigene Rasse sein.

Es ist ein wenig schade, dass Mithu Sanyal nun vor allem dieser theoretischen Spur folgt und sie kaum verknüpft mit der individuellen Geschichte ihrer Romanfigur (wie etwa Philipp Roth in seinem Roman „Der menschliche Makel“, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen). So bleibt Sanyal an der Oberfläche, wenn sie die öffentliche Debatte rund um den Skandal abbildet. Dies allerdings mit größtmöglicher Realitätsnähe: Die Autorin hat bekannte Feuilleton-Journalisten um fiktive Twitter-Beiträge zum fiktiven Skandal gebeten, dazwischen die Positionen realer Wissenschaftler eingestreut, lässt Saraswati etwa debattieren mit dem „polarisierenden Intellektuellen“ Jordan Peterson. So dürfen wir uns als Leser auf der Höhe des Diskurses fühlen.

„Inderin zu sein war in Deutschland der Joker unter den Migrationskarten“

Lebendig wird der Roman vor allem dann, wenn es um die rivalisierende Freundschaft von Nivedita und Priti geht, die im Sari durch Essens Einkaufszone laufen, sich einen Liebhaber aus Kettwig teilten (Yannik) und die später um die Aufmerksamkeit Saraswatis buhlen.

Dass die Professorin sich nicht nur als „PoC“ (Person of Colour) ausgibt, sondern ausgerechnet als Inderin, trifft Nivedita nicht nur, weil es eine so bequeme Wahl ist: „Inderin zu sein war in Deutschland der Joker unter den Migrationskarten“. Vor allem schockt Nivedita, dass sie selbst sich so wenig indisch fühlt (sie hat sogar den Verdacht, gegen Kurkuma allergisch zu sein), sich aber die Professorin das Indischsein ganz mühelos angeeignet hatte. Gerade so, als wäre Herkunft tatsächlich frei wählbar.

Mithu Sanyal: Identitti. Hanser, 432 S., 22 €. Buchpremiere: heute ab 19 Uhr als Instagram-Live-„Party“ mit Talkrunden, @hanserliteratur.