Oberhausen. Die preisgekrönten Filme erzählen von Nomaden in Griechenland und Transfrauen in Kolumbien. Große Schauspielkunst erhält einen Förderpreis.

Das alte Europa bespiegelt sich filmisch in Filmkunst, die nur noch professionelle Kinogucker zu entschlüsseln wissen – während die bedrängenden Themen der Zeit dort verhandelt werden, wo man bisher ignorant weiße Flecken auf der Karte der Filmnationen vermutete. So ließe sich, überspitzt, die Preisverteilung der 68. Internationalen Kurzfilmtage zusammenfassen. Doch die spiegelt ja eher diverse Jury-Konstellationen als die aktuelle Filmkunst auf unserem Globus.

Den höchstdotierten Preis des nunmehr „hybriden“ Traditionsfestivals gab’s jedenfalls für den schon im Titel angestrengt kalauernden Halbstünder „Weathering Heights“ der Schwedin Hannah Wiker Wikström. Die Filmemacherin und Performance-Künstlerin erschafft mit kaleidoskopischen Effekten geisterhafte Kräfte, die sich über ein Ferienhaus in den schwedischen Wäldern hermachen: „Eine Sinneserfahrung, die als klebriges Gefühl einsickert“ – die Internationale Jury meinte das als Lob. Neben dem Großen Preis der Stadt Oberhausen, dotiert mit 7000 Euro, gab’s für „Weathering Heights“ auch den Preis der internationalen Filmkritik.

„Sinneserfahrung als klebriges Gefühl“: Der halbstündige Grusel der Performance-Künstlerin Hannah Wiker Wikström in „Weathering Heights“.
„Sinneserfahrung als klebriges Gefühl“: Der halbstündige Grusel der Performance-Künstlerin Hannah Wiker Wikström in „Weathering Heights“. © Internationale Kurzfilmtage

Viel kürzer (mit acht Minuten) fasst sich die Argentinierin Barbara Lago mit „YON“, in dem sie mit unsentimentalem Blick alte Familienfilme durchstöbert und „die ungestüme Kraft kindlicher Energie reflektiert“, so die Jury, die ihr den mit 3000 Euro dotierten Hauptpreis zuerkannte.

„Das Privileg persönlicher Freiheit“

„L’escale“ erzählt von einem Erlebnis der kongolesischen Filmemacher Paul Shemisi und Nizar Saleh, denen bei einem Zwischenstopp ihres Fluges zu einem europäischen Filmfestival unterstellt wurde, ihre Papiere seien gefälscht. „Das Privileg persönlicher Freiheit“, so die Jury für den Preis des Kulturministeriums NRW, dotiert mit 5000 Euro, sei nach wie vor eng verknüpft mit der Herkunft der Reisenden.

Der höchstdotierte Preis der Online-Wettbewerbe, gestiftet von der Stadt Oberhausen, geht an „Ava Mocoi“: Die brasilianischen Filmemacher Luiza Calagian und Vinicius Toro erzählen von der Bedrängnis des Guaraní-Volkes durch den Landraub weißer Großfarmer und betonen, so die Jury, die Kraft „von Spiritualität und Glauben im Zeitalter des globalen Zynismus“.

In stillen Winkeln Europas leben vereinzelte Nomaden der Aromunen, an die Alexandra Guleas „Fliegende Schafe“ erinnern.
In stillen Winkeln Europas leben vereinzelte Nomaden der Aromunen, an die Alexandra Guleas „Fliegende Schafe“ erinnern. © Internationale Kurzfilmtage

Wie eine Fortsetzung der internationalen Auszeichnungen wirken die Hauptpreise des deutschen Wettbewerbs – dank zweier kraftvoller Erzählungen aus geradezu exotischen Welten. Die „Fliegenden Schafe“ des 24-minütigen Erinnerungsfilms von Alexandra Gulea erkunden das nomadische Leben, das ihre Großeltern auf dem Balkan geführt hatten. Der mit 4000 Euro dotierte Preis des deutschen Wettbewerbs würdigt diesen persönlichen Blick auf „eine nomadische Minderheit, die Spielball umliegender Mächte ist“, so die Jury.

Bleibende Bedrückung der Industriegeschichte

„Aribada“, prämiert mit dem 3sat-Nachwuchspreis und 2500 Euro, erzählt in einer halben Stunde aus dem Leben von Transfrauen eines indigenen Volkes in Kolumbien: Simone Jaikiriuma Paetau und Natalia Escobar gelingen Bilder „zwischen Inszenierung und dokumentarischer Beobachtung“, so das etwas laue Jury-Verdikt.

Die Preisträger des deutschen Online-Wettbewerbs und des NRW-Wettbewerbs schließlich zeigen, wie DDR-Industriegeschichte die Landschaften und ihre Menschen bis in die Gegenwart bedrückt: In „Sonne Unter Tage“, mit 38 Minuten der längste unter den ausgezeichneten Filmen, kartographieren Mareike Bernien und Alex Gerbaulet die Folgen des Uranabbaus in Thüringen und Sachsen. Und die Verwüstungen des Braunkohletagebaus reflektiert Marian Maylands fast halbstündiger Film „Lamarck“.

Die Verwüstungen des Braunkohletagebaus reflektiert Marian Maylands fast halbstündiger Film „Lamarck“.
Die Verwüstungen des Braunkohletagebaus reflektiert Marian Maylands fast halbstündiger Film „Lamarck“. © Internationale Kurzfilmtage

Dass in die Kürze von acht Minuten auch intensives Schauspiel-Kino passt, beweist Rusudan Gaprindashvili: „Bruchstücke“ lässt die erschöpfte, depressive Mutter einer sechsjährigen Tochter um das morgendliche Aufstehen ringen. „Zwei versehrte Seelen ergeben einen Schmerz“, erkennt die Jury des NRW-Förderpreises und formuliert eine Kino-Essenz, die nur für die besten Filme gilt: „Aus Beobachtern der intimen Szenerie werden wir zu Mitleidenden.“